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Wenn unser Wille nur Ausdruck oder Widerhall des Allwillens ist, wo ist dann noch Platz für persönliche Initiative? Ist der einzelne bloß Instrument, um die Allregungen zu verzeichnen? Hat er gar keine schöpferische Gewalt?
Es kommt auf die Bewusstseinsebene an, von der aus ihr betrachtet und sprecht, oder auf den Teil eures Wesens, aus dem ihr handelt. Von einer gewissen Bewusstseinsstufe aus gesehen, erscheint der Einzelne nicht bloß als verzeichnendes Instrument, sondern als Schöpfer. Schaut ihr von einer anderen und höheren Ebene aus, so erkennt ihr, dass der Anschein trügt. Alles, was im Verlauf der Welt geschieht, ist das Ergebnis von allem Vorangegangenen. Wie wollt ihr ein Wesen vom gesamten Spiel der Bewegungen trennen, oder eine Bewegung von der Gesamtheit der Bewegungen? Wohin setzt ihr den Ursprung, den Anfang von etwas? Das Spiel in seiner Gesamtheit ist eine lückenlose Kette, jedes Glied ist unmerklich ans nächste gefügt. Nichts kann aus der Kette herausgenommen und für sich erklärt werden, als wäre es ein Anfang oder ein Ausgangspunkt. Und was soll das heißen, der einzelne schaffe oder erzeuge eine Regung selbst? Schöpft er sie ganz aus sich oder gewissermaßen aus dem Nichts? Wäre ein Wesen fähig, derart einen Gedanken, ein Gefühl, eine Tat oder sonst irgend etwas zu schaffen, so wäre es der Schöpfer der Welt! Nur wenn der Einzelne in seinem Bewusstsein zurücksteigt in das größere Bewusstsein, den Ursprung aller Dinge, kann er Schöpfer werden; er kann eine Regung nur erzeugen, indem er mit der bewussten Macht eins wird, die der letztliche Quell aller Regungen ist. Es gibt viele Bewusstseinsebenen, und die Gesetzmäßigkeit der einen ist nicht die einer anderen. Wenn ihr nun vom einzelnen als Schöpfer sprecht, an welchen Teil von ihm denkt ihr da? Denn er ist sehr vielfältig. Meint ihr sein seelisches Wesen, seinen Geist, sein Vitales oder seinen Körper? Zwischen dem unsichtbaren
- 61- Ursprung einer Regung und ihrer Offenbarung, ihrem Ausdruck durch den einzelnen, befinden sich alle diese Stufen und noch viele mehr; und auf jeder treten Entstellungen und Abweichungen auf. Und dies erweckt den Eindruck einer Neuschöpfung aus frischer Quelle, eines ersten Anfangs einer Bewegung. Das ist ungefähr so, wie wenn ihr einen Stock zum Teil unter Wasser haltet; ihr seht nicht seine wirkliche Linie, sondern eine Abwinkelung. Doch das ist eine Täuschung, eine Verzerrung der Sicht; der Winkel ist nur scheinbar. Ihr könnt natürlich sagen, dass jedes individuelle Bewusstsein zur universalen Bewegung etwas beiträgt, das man von einem gewissen Gesichtspunkt aus seine eigene Entstellung nennen könnte, aus einem anderen Blickwinkel seine eigene Bewegungsweise. Diese persönlichen Eigenschaften haben am Spiel der göttlichen Bewegung teil; ihren Ursprung haben sie nicht aus sich: sie sind Spielarten von Dingen, deren Ursprung man in der Gesamtheit der Welt suchen muss. Überall ist das Gefühl der Getrenntheit verbreitet, doch das ist eine Täuschung, eine dieser falschen Einstellungen des Geistes, die wir berichtigen müssen, wenn wir in das wahre Bewusstsein eintreten wollen. Der Verstand unterteilt die Welt in kleine Stücke und sagt: "Dies ist hier zuende, jenes beginnt dort", und mit dieser Zerstückelung gelingt es ihm. die Allbewegung zu entstellen. Da ist der große Strom eines allumfassenden, allenthaltenden Bewusstseins, das sich in einer sich ständig entfaltenden Welt offenbart. Dies ist die Wahrheit hinter allem, aber es gibt auch diese Täuschung, die euch die Wahrheit verstellt, die Täuschung all dieser Einzelbewegungen, die wähnen, voneinander getrennt zu sein und durch sich, in sich und für sich zu bestehen, als etwas Selbständiges abseits von der übrigen Welt. Sie meinen, ihr Wirken und ihre gegenseitigen Rückwirkungen seien äußerlich, sie selbst verschiedene einander gegenüberstehende Welten ohne Berührungspunkte außer einigen fernen, oberflächlichen Beziehungen. Jedermann hält sich für eine gesonderte Persönlichkeit, die aus eigenem Recht besteht. Dies irrtümliche Gefühl des Getrenntseins ist als Teil des Allspiels erlaubt worden, weil es nötig war, dass das Eine Bewusstsein sich vergegenständliche und seine Formen festige.
- 62- Doch daraus, dass es in der Vergangenheit erlaubt worden ist, folgt nicht, dass die Täuschung der Trennung immer weiterbestehen müsse. Die meisten sind in diesem Allspiel unwissende Instrumente, die wie Marionetten in Bewegung gesetzt werden. Andere sind bewusst und spielen ihre Rolle in dem Wissen, dass es ein Spiel ist. Und einige, die das volle Bewusstsein der Allbewegung haben und eins mit ihr und auch mit dem göttlichen Bewusstsein sind, willigen dennoch zu handeln ein, als wären sie etwas Gesondertes, Bruchstücke vom Ganzen. Es gibt viele Übergangsstufen zwischen dem Unwissen und diesem vollen Bewusstsein, vielerlei Weisen, am Spiel teilzunehmen. Es gibt einen Zustand des Unwissens, in dem ihr etwas tut im Wahn, ihr selbst hättet es beschlossen. Es gibt einen Zustand geringeren Unwissens, in dem ihr etwas in der Erkenntnis tut, dass ihr dazu gedrängt werdet, wenn ihr auch nicht wisst wie und warum. Und es gibt auch einen Zustand der Bewusstheit, in dem ihr voll erweckt seid, denn ihr wisst, was durch euch handelt, ihr wisst, dass ihr ein Werkzeug seid, ihr wisst, warum und wie euer Handeln geschieht, ihr kennt den Vorgang und den Beweggrund. Der Zustand des Unwissens, in dem ihr der Urheber eurer Handlung zu sein wähnt, hält so lange an, wie das für eure Entwicklung nötig ist. Seid ihr aber bereit, in einen höheren Zustand überzugehen, dann beginnt ihr wahrzunehmen, dass ihr ein Werkzeug des Einen Bewusstseins seid. Dann steigt ihr eine Sprosse weiter zu einer höheren Bewusstseinsebene hinauf.
Wird man auf der geistigen Ebene von feindlichen Kräften ebenso angegriffen, wie auf der vitalen?
Es ist schwer, eine genaue Antwort zu geben, ohne sich auf eine Anzahl von Erklärungen einzulassen, was mir jetzt nicht möglich ist. Der Geist ist zwar eine einzige Bewegung, doch gibt es viele Arten darin, viele Schichten, die sich berühren und gegenseitig durchdringen. Umgekehrt greift auch die Bewegung, die wir Geist nennen, auf andere Ebenen über. In der geistigen Welt selbst
- 63- gibt es zahlreiche Ebenen. All diese geistigen Gebiete und Kräfte hängen eng zusammen, doch besteht in der Eigenschaft ihrer Bewegungen ein Unterschied, und wir müssen sie auseinanderhalten, um uns besser verständlich zu machen. So sprechen wir vom höheren, mittleren, physischen und sogar vom völlig stofflichen Geist, und es ließen sich noch viele andere Unterscheidungen machen. Gewisse geistige Regionen befinden sich hoch über der vitalen Welt und entgehen deren Einfluss. Man trifft da keine feindlichen Kräfte und Wesen. Aber es gibt andere, viele andere, die von ihnen berührt und durchdrungen werden können. Die Geistebene, die zur physischen Welt gehört (was wir für gewöhnlich "physischen Geist" nennen), ist in ihrer Beschaffenheit und Bewegung stofflicher als der eigentliche Geist, und sie steht weitgehend unter der Herrschaft der vitalen Welt und der feindlichen Kräfte. Im Allgemeinen ist dieser physische Geist irgendwie verbündet mit dem niederen Vitalen und seinen Regungen; sobald dies Wünsche und Impulse bekundet, kommt ihm der stofflichste Geist zu Hilfe und rechtfertigt sie mit Vorwänden, Entschuldigungen und Vernünfteleien. Dieser Teil des Geistes ist den Einflüsterungen der vitalen Welt am meisten geöffnet und wird am häufigsten von den Widersachern überfallen. Wir haben in uns aber auch einen höheren Geist, der sich im Bereich unbefangener Gedanken und leuchtender Spekulationen bewegt und der die Formen hervorbringt; dieser ist kein Helfershelfer der vitalen Impulse. Und noch weiter oben befindet sich der Geist der reinen Ideen, vor ihrer Formgebung; hier findet sich keine Spur von Einfluss der vitalen Regungen und gegnerischen Kräfte, weil er sich hoch darüber hält. Es kann da zwar widersprüchliche Regungen geben, die mit der Wahrheit nicht übereinstimmen oder einander widerstreiten, aber keine vitale Wirrsal, nichts eigentlich Feindliches. Die wahrhaft philosophische Geistigkeit, die ausschließlich mit Denken, Forschen und Gestalten beschäftigt ist, und auch der Geist der reinen Ideen jenseits aller Gestalt befinden sich außer Reichweite der niederen Welten und deren Einfluss. Daraus darf man jedoch nicht schließen, dass die Regungen dieser geistigen Regionen nicht
- 64- nachgeahmt oder mit ihren Schöpfungen kein Missbrauch getrieben werden könne durch perverse und feindliche Wesen von größerem Machtbereich und höherem Ursprung als alle, von denen ich bis jetzt gesprochen habe.
Wie verhält es sich mit der seelischen Welt? Welches ist ihre Lage den feindlichen Kräften gegenüber?
Die Welt oder Ebene des seelischen Bewusstseins ist jener Teil der Welt, und das seelische Wesen jener Teil unsres Wesens, der unmittelbar unter dem Einfluss des göttlichen Bewusstseins steht; die feindlichen Kräfte haben nicht den geringsten Einfluss auf sie. Sie ist eine Welt der Harmonie, und alles in ihr entfaltet sich von Helligkeit zu Helligkeit und von Fortschritt zu Fortschritt. Sie ist die Wohnung des göttlichen Bewusstseins, des göttlichen Selbstes im Einzelwesen. Sie ist ein Mittelpunkt von Licht, Wahrheit, Wissen und Schönheit, die das göttliche Selbst durch seine Gegenwart in jedem von uns allmählich erschafft; beeinflusst, geformt und bewegt wird sie vom göttlichen Bewusstsein, von dem sie ein Bestandteil ist. In jedem ist sie das innere Wesen, das ihr suchen müsst, um mit dem Göttlichen in euch in Fühlung zu kommen. Es ist der Mittler zwischen dem göttlichen Bewusstsein und dem gewöhnlichen; in der äußeren Natur offenbart es Ordnung und Gesetz des göttlichen Willens. Wenn euer Außenbewusstsein der Gegenwart des seelischen Wesens in euch innewird und sich ihm eint, dann könnt ihr das reine ewige Bewusstsein entdecken und in ihm leben. Statt, wie es bei den Menschen stets der Fall ist, vom Unwissen bewegt zu werden, werdet ihr der Gegenwart eines ewigen Lichts und Wissens in euch bewusst, und ihm überantwortet und weiht ihr euch ganzheitlich, um es in allem auszudrücken. Denn das seelische Wesen ist der Teil in euch, der dem Göttlichen schon gegeben ist. Und indem sich sein Einfluss nach und nach von innen nach außen auf die stofflichsten Grenzen eures Bewusstseins zu verbreitet, wird es die Umwandlung eurer ganzen Natur bewirken. Die meisten sind sich der Seele in ihnen nicht bewusst; der Joga sucht euch ihrer bewusst zu machen, damit der
- 65- Vorgang der Umwandlung, statt sich mühselig über Jahrhunderte hinzuziehen, in ein einziges Leben oder sogar in ein paar Jahre zusammengefasst werden kann. Das seelische Wesen ist es, was den Tod überdauert, denn es ist das unsterbliche Selbst, es führt das Bewusstsein von Leben zu Leben weiter. Das seelische Wesen hat die wahre Individualität des eigentlichen Individuums in euch; denn Individualität heißt eine jedem eigentümliche Ausdrucksweise, und euer seelisches Wesen ist einer der zahllosen Aspekte des einzigen Göttlichen Bewusstseins, das in euch Form angenommen hat. Doch für das seelische Bewusstsein gibt es nicht dies Gefühl der Trennung zwischen dem Einzelnen und dem Allheitlichen wie für die anderen Teile eurer Natur. Darin wisst ihr, dass das Einzelsein eure eigene Ausdruckslinie ist, doch erkennt ihr zugleich, dass dieser Ausdruck nur eine Vergegenständlichung des Einen Allbewusstseins ist. Es ist, als hättet ihr einen Teil eurer selbst aus euch herausgenommen und euch gegenübergestellt, um zwischen den beiden einen Austausch des Blicks und des Spiels zu ermöglichen. Diese Zweiheit war nötig, um eine objektive Bewegung herzustellen und sie zu genießen; aber für das seelische Wesen ist die Trennung, die die Zweiheit verschärft, nur eine Täuschung, ein Anschein und nichts weiter.
Gibt es einen Unterschied zwischen dem "Spirtlichen" und dem ,,Seelischen" ? Sind es zwei verschiedene Ebenen ?
Ja. Die seelische Ebene gehört zur persönlichen Offenbarung, das Seelische ist der göttliche Teil des Einzelwesens, die ins Spiel geworfene Dynamik. Sprechen wir hingegen vom Spirtlichen, so meinen wir etwas, das eher im Göttlichen als in der äußeren Offenbarung gesammelt ist. Die spirtliche Ebene ist statisch und hält sich hinter und über dem Allspiel; sie unterstützt die Instrumente der Natur, ist aber nicht selbst in der äußeren Offenbarung eingeschlossen und darin versunken. Doch wenn wir von diesen Dingen reden, müssen wir achtgeben, uns von den gebrauchten Wörtern nicht festlegen zu lassen.
- 66- Spreche ich vom Seelischen oder vom Spirtlichen, so meine ich Dinge, die hinter der Oberfläche der Wörter tief wirklich und auch in ihrem Unterschied innig miteinander verbunden sind. Die intellektuellen Definitionen und Unterscheidungen sind zu oberflächlich und starr, um die gesamte Wahrheit der Dinge zu fassen. Und dennoch ist es fast unerlässlich, sofern man nicht miteinander sehr vertraut ist, den Sinn der gebrauchten Wörter zu umgrenzen, um sich verständlich zu machen. Die ideale Voraussetzung für ein Gespräch ist ein so guter Einklang zwischen den Geisten, dass das Gesprochene einem spontanen gegenseitigen Verstehen nur als Stütze dient; dadurch wird es überflüssig, sich bei jedem Schritt erklären zu müssen. Das ist der Vorteil, wenn man immer mit denselben Personen spricht; man ist im Geist so aufeinander abgestimmt, dass die Bedeutung des Gesagten sogleich verstanden wird. Es gibt eine Welt der formlosen Ideen, und dort müsst ihr eintreten, wenn ihr erfassen wollt, was sich hinter den Wörtern befindet. Solange euer Verständnis auf Wortgebilden beruht, täuscht ihr euch leicht über deren wirkliche Bedeutung; könnt ihr euch aber im geistigen Schweigen bis zu der Welt erheben, von wo die Ideen kommen, um Form anzunehmen, so begreift ihr im Nu. Wollt ihr sicher sein, einander zu verstehen, so müsst ihr es im Schweigen können. Es kommt vor, dass zwei Geiste so vollkommen übereingestimmt sind, dass einer die Gedanken des anderen wahrnimmt, obgleich beide kein einziges Wort äußern. Ist dieser Einklang aber nicht vorhanden, so wird der Sinn eurer Worte stets entstellt, weil der Gesprächspartner das Gesagte durch seine eigene Art des Verstehens ersetzt. Ich gebe also einem Wort einen bestimmten Sinn oder eine bestimmte Nuance; ihr pflegt ihm einen anderen Sinn oder eine andere Nuance zu geben; dann versteht ihr natürlich nicht genau, was ich meine, sondern was das Wort für euch bedeutet. Das gilt nicht nur für das Hören, sondern auch für das Lesen. Um ein Buch mit tiefem Gehalt zu begreifen, muss man es in völligem Schweigen des Geistes lesen können; man muss warten und den Ausdruck tief in sich einsinken lassen bis in den Bereich des Wortlosen; von dort steigt er langsam wieder in das Außenbewusstsein und das Oberflächenverständnis auf. Wenn ihr
- 67- die Worte in den äußeren Geist fallen lasst und meint, sie müssten sich miteinander einrichten, entgeht euch ihr wahrer Sinn und ihre Kraft völlig. Vollkommenes Verstehen kann es nur im Einssein mit dem ungeäußerten Geist hinter dem Ausdruckszentrum geben. Wir haben schon davon gesprochen, wie die einzelnen Geiste verschiedene voneinander getrennte Welten sind; jeder ist in sich selbst eingeschlossen, fast ohne direkte Berührungspunkte mit den anderen. Doch das ist der niedere Geist, wo man in seinen eigenen Prägungen gefangen ist; man kommt von ihnen nicht leichter los als von sich selbst, man versteht bloß sich selbst und seine eigenen Spiegelungen in den Dingen. Aber im höchsten Gebiet, auf den reinen Gipfeln des ungeäußerten Geistes, ist man frei; sobald man dorthin gelangt, kommt man von sich selber los und betritt die Ebene des Allgeistes, wo die Geisteswelt jedes einzelnen wie in ein einziges riesiges Meer getaucht ist. Dort könnt ihr völlig verstehen, was im anderen vorgeht, oder in seinem Geist lesen, als wärs euer eigener, weil keine Trennwand den einen Geist vom anderen scheidet. Erst wenn ihr mit den anderen in diesem Gebiet zusammenkommt, könnt ihr sie begreifen; sonst stimmt ihr nicht überein, habt keinen Kontakt, keine Möglichkeit, genau zu erkennen, was in einem anderen Geist als dem euren vorgeht. Wenn ihr jemandem gegenübersteht, wisst ihr meistens überhaupt nicht, was er denkt und fühlt; seid ihr aber imstande, über die oberflächliche Ausdrucksebene hinauszugehen und eine andere zu betreten, wo schweigende Gemeinschaft möglich ist, so könnt ihr einer im anderen lesen wie in euch selbst. Dann kommt es auf die Wörter, mit denen ihr euch ausdrückt, nur noch sehr wenig an, weil das volle Verständnis sich dahinter in etwas anderem findet, und ein Minimum von Worten genügt, eure Absicht klarzumachen. Lange Erklärungen sind nicht mehr nötig; ihr braucht einem Gedanken nicht mehr seinen vollständigen Ausdruck zu verleihen, weil ihr die direkte Schau habt von dem, was er bezeichnet.
Wird eine Zeit kommen, wo es keine Widersacher mehr gibt?
Wenn ihre Anwesenheit in der Welt von keinem Nutzen mehr sein wird, verschwinden sie. Ihr Wirken dient als Prüfung, damit bei dem Werk der Umwandlung nichts vergessen, nichts übergangen
- 68- werde. Diese Widersacher lassen keinen Irrtum durch. Habt ihr in eurem eigenen Wesen etwas übersehen, und sei es auch nur eine winzige Kleinigkeit, dann rühren sie an die vernachlässigte Stelle, bis sie so schmerzhaft offenbar wird, dass ihr euch gezwungen seht sie zu ändern. Wenn sie für diesen Prozess nicht mehr nötig sind, wird ihre Existenz überflüssig und hört auf. Sie dürfen hier fortdauern, weil sie für das Große Werk gebraucht werden; sobald sie entbehrlich sind, müssen sie sich ändern oder verschwinden.
Wird es lange dauern, bis es so weit ist?
Das kommt auf den Gesichtspunkt an. Denn die Zeit ist relativ; ihr könnt aus dem normalmenschlichen Blickwinkel von ihr sprechen oder aus dem tieferen eines innerlichen Bewusstseins, oder von oben aus der göttlichen Sicht. Wenn ihr mit dem göttlichen Bewusstsein eins seid, kommt es sehr wenig darauf an, ob das zu Verwirklichende nach Menschenberechnung Tausende von Jahren oder nur ein Jahr erfordert; denn dann habt ihr die Dinge der menschlichen Natur hinter euch gelassen und seid in das Unendliche und Ewige der göttlichen Natur eingetreten. Damit entkommt ihr diesem Gefühl äußerster Ungeduld, von dem die Menschen besessen sind, weil sie die Dinge erledigt sehen wollen. Betriebsamkeit, Eile und Unruhe führen nirgendwohin. Das ist Schaum auf dem Meer, viel Aufhebens, das nichts bewirkt. Die Menschen haben das Gefühl, dass sie nichts tun, wenn sie nicht immerfort überall herumrennen, sich in fieberhafte Tätigkeit stürzen, Gruppen, Gesellschaften und Bewegungen gründen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass all diese sogenannten Bewegungen irgend etwas ändern. Das ist gerade so, wie wenn man in einem Wasserglas umrührt; das Wasser gerät in Bewegung, aber es verändert sich dadurch in keiner Weise. Diese Täuschung über das Tätigsein ist eine der größten Illusionen der menschlichen Natur. Sie schadet dem Fortschritt, weil sie einen ständig dazu treibt, sich stürmisch in irgendeine Unternehmung zu werfen. Wenn man doch nur das Täuschende, das Nutzlose von alledem einsehen würde, erkennen, dass nichts, aber auch gar nichts verändert wird. Nirgends kann man auf diese Weise etwas vollbringen. Die derart hierhin und dorthin hasten,
- 69- sind das Spielzeug von Kräften, die Spaß daran haben, sie tanzen zu lassen, und diese Kräfte sind sicher nicht von der besten Sorte. Alles, was auf der Welt getan worden ist, geht auf die kleine Anzahl jener zurück, die sich aus dem Betrieb heraushalten — im Schweigen; denn sie sind die Werkzeuge der göttlichen Macht und ihre dynamischen und bewussten Mittler; sie bringen die Kräfte herab, die die Welt umwandeln. Nur so werden die Dinge getan, nicht durch ruhelose Aktivität. Im Frieden, im Schweigen und in Ruhe ist die Welt erschaffen worden, und wann immer etwas wahrhaft zu erschaffen ist, muss es gleichfalls im Frieden, im Schweigen und in der Ruhe geschehen. Von großem Unwissen zeugt die Ansicht, man müsse vom Morgen bis zum Abend rastlos alle möglichen nichtigen Dinge betreiben, um etwas für die Welt zu vollbringen. Um das Ausmaß der Täuschung zu sehen genügt es, von diesen stürmischen Kräften einen Schritt Abstand zu nehmen und in die ruhigen Regionen einzutreten! Von dort aus sieht die Menschheit wie eine Masse blinder Geschöpfe aus, die in alle Richtungen hetzen, ohne zu wissen, was sie tun und warum sie es tun, und ständig übereinander stolpern und zusammenstoßen. Und das nennen sie Tätigkeit und Leben! Es ist bloß leere Betriebsamkeit, gewiss kein wirkliches Tätigsein und auch kein wahres Leben. Ich sagte einmal, man müsse, um nutzbringend zehn Minuten lang zu reden, zehn Tage lang ruhig bleiben. Ich könnte hinzufügen: um einen Tag lang nützlich zu handeln, muss man sich ein Jahr lang ruhig verhalten. Natürlich spreche ich nicht von den gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens, denn die sind nötig, es aufrecht zu erhalten; ich spreche von Menschen, die für die Welt etwas zu tun haben oder meinen, etwas zu tun zu haben. Und das Schweigen, von dem ich spreche, ist die innere Gelassenheit, die nur jene haben, die handeln können, ohne sich mit ihrer Tätigkeit gleichzusetzen und sich in ihr zu verlieren, vom Lärm ihres eigenen Treibens betäubt und geblendet. Haltet euch über eurem Tun, steigt auf eine Höhe, die diese zeitlichen Bewegungen überragt; tretet in das Bewusstsein der Ewigkeit ein. Dann werdet ihr wissen, was wirkliches Handeln ist.
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Was für eine Beziehung besteht zwischen menschlicher Liebe und göttlicher Liebe? Ist die menschliche Liebe ein Hindernis für die göttliche? Oder ist die Fähigkeit, menschlich zu lieben, ein Zeichen für das Vermögen w göttlicher Liebe ? Waren nicht große spirtlich Gestalten wie Christus, Ramakrischna und Wivekananda von Natur aus besonders innig und liebevoll ?
Die Liebe ist eine der großen Allkräfte; sie besteht in sich selbst, unabhängig von den Gegenständen, in denen, durch die und für die sie sich offenbart, und ihre Bewegung ist immer frei. Sie offenbart sich überall, wo sie eine Möglichkeit sieht, überall, wo eine Empfänglichkeit ist, in allem, was sich ihr öffnet. Was ihr Liebe nennt und für etwas Persönliches, Individuelles haltet, ist nur das Vermögen, diese Allkraft zu empfangen und zu offenbaren. Doch daraus, dass diese Kraft allheitlich ist, folgt nicht, dass sie unbewusst wäre; im Gegenteil, sie ist eine höchst bewusste Gewalt. Sie trachtet bewusst nach ihrer Offenbarung und Verwirklichung auf Erden; bewusst wählt sie ihre Werkzeuge, erweckt jene, die einer Antwort fähig sind, zu ihren Schwingungen und sucht in ihnen ihre ewige Absicht zu verwirklichen; und wenn das Werkzeug sich als unfähig erweist, lässt sie es fallen und wendet sich anderen zu. Die Menschen meinen, sie hätten sich plötzlich verliebt; sie sehen ihre Liebe entstehen, wachsen und schwinden — oder auch ein bisschen länger dauern bei solchen, die für eine Verlängerung ihrer Regung besonders veranlagt sind. Jedenfalls täuscht das Gefühl, dass es sich um eine persönliche, einem selbst gehörende Erfahrung handelt: es war nur eine Woge aus dem grenzenlosen Meer der Allliebe. Die Liebe ist allheitlich und ewig; immer offenbart sie sich und ist sich im Wesen immer gleich. Es ist eine göttliche Kraft, denn die Entstellungen, die wir in ihren Erscheinungsformen wahrnehmen, rühren von den Werkzeugen her. Nicht nur in den Menschen offenbart sich die Liebe, sie ist überall — in den Pflanzen ist ihre Regung, ja sogar in den Steinen; bei den Tieren ist sie leicht
- 71- zu erkennen. Alle Verfälschungen dieser großen göttlichen Gewalt entstammen der Dunkelheit, dem Unwissen und der Ichsucht seiner begrenzten Werkzeuge. Die Liebe, diese ewige Kraft, kennt keine Lüsternheit, keine Gier, keinen Besitztrieb, kein persönliches Anhängen; in ihrer reinen Bewegung ist sie der Drang des Selbstes nach Einigung mit dem Göttlichen, ein unbedingtes Streben, unbekümmert um alles übrige. Die göttliche Liebe schenkt sich und verlangt nichts. Was die Menschen aus ihr gemacht haben, davon spricht man besser nicht; sie haben sie zu etwas Abstoßendem und Hässlichem entstellt! Und dennoch bringt die erste Berührung mit der Liebe auch bei den Menschen einen Widerschein ihres reineren Gehaltes mit sich; für eine Weile vermögen sie sich selbst zu vergessen; für eine Weile erweckt und verklärt die göttliche Liebesberührung alles, was edel und schön ist. Doch die menschliche Natur gewinnt sehr schnell wieder die Oberhand, ist voll unreiner Ansprüche, fordert etwas im Austausch für das Gegebene und schachert mit dem, was selbstloses Geschenk sein müsste, besteht auf der Befriedigung niedriger Begierden, verunstaltet und beschmutzt, was göttlich war. Um die göttliche Liebe zu offenbaren, muss man für sie empfänglich sein. Nur jene sind dazu imstande, die für ihre wesenhafte Bewegung offen sind. Je weiter und klarer die Öffnung in ihnen ist, desto mehr offenbaren sie die göttliche Liebe in ihrer ursprünglichen Reinheit; je mehr sie sich umgekehrt mit den niedrigeren menschlichen Regungen vermischt, desto größer wird die Entstellung. Wer für die Liebe in ihrem Wesen und ihrer Wahrheit nicht offen ist, kann sich dem Göttlichen nicht nähern. Auch jene, die es auf dem Weg des Wissens suchen, kommen an einen Punkt, wo sie, wenn sie darüber hinauswollen, nicht umhin können, auch in die Liebe einzutreten und beides als eines zu empfinden: Wissen, das Licht der göttlichen Einung, und Liebe, die eigentliche Seele dieses Wissens. In einem gewissen Augenblick des Fortschritts der Seele treffen die beiden zusammen und lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Die Trennung, die Unterscheidung zwischen ihnen ist geistgeschaffen; erhebt man sich auf eine höhere Ebene, so verschwindet sie.
- 72- Unter denen, die auf diese Welt gekommen sind, um hier das Göttliche zu offenbaren und das irdische Leben umzuwandeln, haben einige die göttliche Liebe in besonderer Fülle offenbart. In manchen ist die Reinheit der Offenbarung so groß, dass sie von der gesamten Menschheit missverstanden und sogar beschuldigt werden, hart und herzlos zu sein; und dennoch ist in ihnen die göttliche Liebe, aber in Form und Gehalt eben göttlich und nicht menschlich. Denn sobald die Menschen von Liebe sprechen, denken sie an eine emotionale und sentimentale Schwäche. Aber die göttliche Intensität der Selbstvergessenheit, dies Vermögen, sich völlig zu geben, vorbehaltlos und schrankenlos, ohne dafür etwas zu verlangen, ist den Menschen kaum bekannt. Und wenn sie sich ohne emotionale Beimischung und sentimentale Schwäche offenbart, dann werfen ihr die Menschen Gefühllosigkeit und Kälte vor; sie können darin das höchste, intensivste Liebesvermögen nicht erkennen. Wollt ihr wissen, wie das Göttliche seine Liebe in der Welt offenbart hat? Es tat das in Form eines großen Opfers, einer höchsten Selbsthingabe. Das vollkommene Bewusstsein willigte ein, in das Unbewusste der Materie einzutauchen und darin aufzugehen, damit das Bewusstsein in den tiefsten Tiefen geweckt werde und die göttliche Macht nach und nach auftauche und das gesamte offenbarte Weltall zu einem höheren Ausdruck des göttlichen Bewusstseins und der göttlichen Liebe mache. Dies war tatsächlich die höchste göttliche Liebe: einzuwilligen, den vollkommenen göttlichen Zustand, sein unbedingtes Bewusstsein und unendliches Wissen zu verlieren, um sich dem Unbewussten zu einen und in der Welt mit deren Unwissen und Dunkel zu bleiben. Und dennoch würde sie wohl niemand Liebe nennen, denn sie hüllt sich nicht in oberflächliche Gefühle, verlangt nichts für das, was sie getan hat, und prahlt nicht mit ihrem Opfer. Die Liebeskraft in der Welt sucht Wesen, die diese göttliche Bewegung in ihrer Reinheit zu empfangen und auszudrücken vermögen. Dies Rennen aller Geschöpfe zur Liebe, dieser unwiderstehliche Drang, dies Trachten des Herzens der Welt und aller Herzen, das alles kommt vom Antrieb der göttlichen Liebe hinter den menschlichen Leidenschaften. Sie ergreift Millionen Instrumente, versucht es
- 73- immer wieder und wird immer wieder enttäuscht; doch durch diese ständige Berührung werden die Werkzeuge vorbereitet, und eines Tages wird in ihnen das Vermögen zur Selbsthingabe erwachen, das Liebesvermögen. Die Bewegung der Liebe beschränkt sich nicht auf die Menschen, und vielleicht ist sie in anderen Welten weniger entstellt als in dieser. Seht die Blumen und Bäume an. Wenn bei Sonnenuntergang alles still wird, lasst euch eine Weile unter den Bäumen nieder und setzt euch mit der Natur in Einklang; dann fühlt ihr, wie sich von der Erde, von den tiefsten Wurzeln der Bäume durch die Fasern aufwärts bis in die höchsten Zweige die Sehnsucht einer Liebe und eines innigen Bedürfnisses erhebt — Bedürfnis nach etwas, das Licht bringt und Glück schenkt, nach der Helligkeit, die verschwand und deren Rückkehr erfleht wird. Das steigt auf wie ein Dankgebet mit so reinem und spontanem Schwung, dass euer eigenes Wesen sich miterheben kann in inbrünstiger Anrufung des Friedens, des Lichtes und der Liebe, die hier noch nicht offenbart sind. Seid ihr einmal mit dieser reinen, weiten und wahren göttlichen Liebe in Berührung gekommen, und sei es auch nur für kurze Zeit und in ihrer geringsten Form, so wird euch klar, wie sehr die menschliche Begierde sie erniedrigt hat. In der menschlichen Natur ist sie gemein, roh, ichsüchtig, gewalttätig und hässlich geworden, oder auch schwächlich und sentimental; sie besteht aus lauter kleinlichsten Empfindungen, ist haltlos, oberflächlich und anspruchsvoll. Und diese Niedrigkeit, diese Rohheit oder diese Schwäche nennt man Liebe!
Soll unser Vitales an der göttlichen Liebe teilhaben? Wenn ja, was wäre die richtige Form dafür?
Wo wäre der Offenbarung der göttlichen Liebe eine Grenze gesetzt? Sollte sie auf ein überwirkliches oder unstoffliches Gebiet beschränkt werden? Die göttliche Liebe taucht bei ihrer Offenbarung auf Erden bis in die stofflichste Materie. In den ichsüchtigen Entstellungen des menschlichen Bewusstseins lässt sie sich allerdings nicht finden. Aber an sich ist das vitale Element für
- 74- die Offenbarung der göttlichen Liebe ebenso wichtig wie für jede andere Offenbarung auf der Welt. Ohne die Vermittlung des Vitalen ist keine Bewegung und kein Fortschritt möglich. Doch weil diese Naturgewalt so furchtbar entstellt worden ist, meinen manche, sie müsse verworfen und aus dem Wesen und der Welt verbannt werden. Aber nur über das Vitale kann die Materie von der umwandelnden Kraft des Spirts berührt werden. Wäre das Vitale nicht da, seine Dynamik einzuflößen, so bliebe die Materie tot; denn wären die höchsten Teile des Wesens nicht imstande, mit der Erde in Fühlung zu kommen und sich im Leben zu verdichten, so würden sie sich unbefriedigt zurückziehen und verschwinden. Die göttliche Liebe, von der ich spreche, ist eine Liebe, die sich hier offenbart, auf dieser physischen Erde, in der Materie; allerdings muss sie von allen menschlichen Entstellungen reingehalten werden, damit sie einwilligt sich zu verkörpern. Hierbei, wie bei aller Offenbarung, ist das Vitale ein unerlässlicher Mittler; doch wie das so zu sein pflegt, haben die Widersachergewalten gerade wegen seines Wertes von ihm Besitz ergriffen. Die Energie des Vitalen ist es, die den dumpfen, fühllosen Stoff durchdringt, um ihn erwidern und lebendig werden zu lassen. Doch die feindlichen Kräfte haben diese Energie entstellt, sie zu einem Feld der Gewalt, der Ichsucht, der Begierde und aller Art von Hässlichkeit gemacht und sie so daran gehindert, ihren Platz im göttlichen Werk einzunehmen. Es kommt einzig darauf an, sie umzuwandeln, nicht aber ihre Regungen zu unterdrücken oder zu zerstören. Denn ohne sie ist nirgendwo Intensität möglich. Das Vitale ist seiner Natur nach das in uns, was sich großzügig hingeben kann. Gerade weil es immer den Drang und die Kraft hat zu nehmen, vermag es sich auch bis zum äußersten zu schenken; weil es zu besitzen versteht, weiß es sich auch rückhaltlos hinzugeben. Die echte vitale Bewegung ist eine der schönsten und großartigsten; aber sie ist in die hässlichste, verdorbenste und abstoßendste von allen verkehrt und verzerrt worden. Wo immer es in einer menschlichen Geschichte der Liebe wenigstens ein Atom reiner Liebe gegeben hat und dies sich ohne allzuviel Entstellung offenbaren durfte, haben wir etwas Schönes und Wahres vor uns. Und
- 75- wenn diese Regung nicht dauert, so deshalb, weil sie ihr wirkliches Ziel nicht kennt; ihr entgeht, dass sie eigentlich nicht die Vereinigung zweier Wesen erstrebt, sondern die Einung aller Wesen mit dem Göttlichen. Die Liebe ist eine höchste Kraft, die das ewige Bewusstsein ausgestrahlt und in die träge, dunkle Welt geschickt hat, um diese Welt mit ihren Wesen zum Göttlichen zurückzuführen. In ihrem Dunkel und ihrem Unwissen hatte die Stoffwelt das Göttliche vergessen. Die Liebe stieg in die Finsternis hinab und weckte dort alle, die eingeschlafen waren; sie öffnete die versiegelten Ohren, indem sie flüsterte: "Es gibt etwas, wofür zu erwachen und zu leben sich lohnt: die Liebe!" Und mit dem Erwachen zur Liebe kam die Möglichkeit einer Rückkehr zum Göttlichen in die Welt. Durch die Liebe erhebt sich die Schöpfung zum Göttlichen, und antwortend neigt sich die göttliche Liebe mit ihrer Gnade der Schöpfung entgegen. Die Liebe kann in ihrer reinen Schönheit nur bestehen, kann ihre angestammte Macht, die starke Freude ihrer Fülle nur annehmen in diesem Austausch, dieser Verschmelzung zwischen der Erde und dem Höchsten, dieser Liebesbewegung, die vom Göttlichen zur Schöpfung und von der Schöpfung zum Göttlichen geht. Diese Welt war tote Materie, bis die göttliche Liebe zu ihr hinabstieg und sie zum Leben erweckte. Seither ist sie unterwegs auf der Suche nach diesem göttlichen Leben, aber dabei hat sie alle möglichen verkehrten Richtungen und falschen Wege eingeschlagen, ist überall umhergeirrt. in der Nacht. Die Masse dieser Schöpfung ist wie ein Blinder vorangekommen, der im Unbekannten sucht und nicht einmal weiß wonach. Die höchste so erreichte Liebe ist jene, die den Menschen als ihre erhabenste Form und in ihrer Art als die reinste und selbstloseste erscheint, wie zum Beispiel die Mutterliebe. Insgeheim sucht menschliche Liebe etwas anderes, als was sie schon gefunden hat; doch weiß sie nicht, wo es zu finden ist, ja nicht einmal, was es ist. Von dem Augenblick an, wo des Menschen Bewusstsein zur göttlichen Liebe erwacht, rein und von aller Offenbarung in menschlicher Gestalt unabhängig, weiß er, wonach sein Herz seit je zutiefst gedürstet hat. So beginnt die Sehnsucht seiner Seele, die
- 76- das Bewusstsein zum Verlangen nach Einung mit dem Göttlichen weckt. Von da an müssen alle aus der Unwissenheit gekommenen Formen, alle von ihr geschaffenen Entstellungen erlöschen und verschwinden, um einem einzigen Aufstreben der Schöpfung Platz zu machen, die der göttlichen Liebe mit ihrer Liebe zum Göttlichen antwortet. In eine bewusste, erwachte Schöpfung, die für die Liebe des Göttlichen offen ist, gießt das Göttliche seine grenzenlose Liebe als Antwort. Der Kreis der ganzen Bewegung ist geschlossen; die beiden Extreme, Spirt und offenbarte Materie, treffen sich, und ihre göttliche Einung wird vollständig und dauerhaft. Es haben große Wesen in dieser Welt Geburt angenommen, um etwas von der höchsten Reinheit und Macht der göttlichen Liebe herabzubringen. Oder besser gesagt: in ihrem Wesen hat sich die göttliche Liebe in eine persönliche Form begeben, damit ihre Verwirklichung auf Erden sowohl einfacher als auch vollkommener sei. Denn wenn die göttliche Liebe sich in einem persönlichen Wesen offenbart, ist sie leichter zu begreifen, als wenn sie unpersönlich bleibt. Wer durch diese persönliche Berührung und die ihr eigene Intensität zum Bewusstsein der göttlichen Liebe erwacht ist, sieht das Werk der Umwandlung dadurch erleichtert; die Einung, die er zu erreichen strebt, wird natürlicher und vertrauter. Diese Verwirklichung, diese Einung wird auch reicher und vollkommener, denn die weite Gleichförmigkeit unpersönlicher und allheitlicher Liebe erhellt und belebt sich durch die Farbe und Schönheit aller nur möglichen Beziehungen zum Göttlichen.
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Was ist eigentlich die Natur der Religion? Ist sie ein Hindernis auf dem Weg des spirtlichen Lebens?
Die Religion gehört zum höheren Geist der Menschheit. Sie stellt die Bemühung des Menschen dar, sich seiner Kraft entsprechend einer Sache zu nähern, die ihn übersteigt und der er Namen wie Gott, Heiliger Geist, Wahrheit, Glaube, Wissen oder Unendliches gibt, eine Art Unbedingtes, das der menschliche Geist nicht erreichen kann und dennoch zu erreichen strebt. Religion mag in ihrem Ursprung göttlich sein; ihrer gegenwärtigen Natur nach ist sie nicht göttlich, sondern menschlich. Wir sollten wohl eher von Religionen sprechen, als von der Religion, denn der Mensch hat unzählige Religionen geschaffen. Sie wurden fast alle auf dieselbe Art gemacht, wenn auch ihr Ursprung nicht der gleiche ist. Es ist bekannt, wie die christliche Religion entstanden ist. Bestimmt ist nicht Jesus für das verantwortlich, was man Christentum nennt. Einige sehr gelehrte und gewitzte Leute steckten ihre Köpfe zusammen und konstruierten das, was wüschen, Da war nichts Göttliches in der Art, wie es gebildet wurde, und auch nicht in der Art, wie es funktioniert. Und dennoch war die Rechtfertigung oder der Anlass seines Entstehens zweifellos eine Verkündigung, die von einem solchen Wesen stammt, einem Wesen von anderswoher, das der Erde aus einer höheren Region ein bestimmtes Wissen, eine bestimmte Wahrheit brachte. Er kam und litt für seine Wahrheit. Aber sehr wenige begriffen, was er sagte, sehr wenige bemühten sich, die Wahrheit zu finden, für die er gelitten hatte, und sich danach zu richten. Buddha zog sich aus der Welt zurück; er setzte sich in Meditation und entdeckte einen Weg, der aus dem irdischen Leiden und Elend, aus Krankheit, Tod, Begehren, Sünde und Hunger hinausführt. Er lebte eine Wahrheit, die er den um ihn versammelten Jüngern und Eingeweihten mitzuteilen versuchte. Aber schon vor seinem Tode war die Lehre von ihrem wirklichen Sinn abgewichen. Erst nach dem Ableben von Buddha trat der Buddhismus
- 78- als ausgerüstete Religion auf, gegründet auf angebliche Aussprüche des Meisters und deren vermutliche Bedeutung. Weil sich aber die Jünger, und die Jünger der Jünger, nicht darüber einig waren, was ihr Meister gesagt oder gemeint habe, entstand bald ein Heer von Sekten und Untersekten im Körper der Mutterreligion — "Das Kleine Fahrzeug" oder der Südliche Pfad, "Das Große Fahrzeug" oder der Nördliche Pfad, die zahlreichen Pfade des Fernen Ostens — jeder mit dem Anspruch, die einzige, ursprüngliche, reine Lehre des Buddha zu sein. Dem, was Christus gelehrt hat, ist das gleiche Schicksal widerfahren. Auch da gingen zahllose kleine Kirchen aus der ersten Religion hervor. Es wird oft gesagt, dass Jesus, kehrte er wieder, seine Lehre unter all den Verkleidungen nicht wiedererkennen würde. Und Buddha, käme er wieder auf die Erde und sähe, was man aus seiner Lehre gemacht hat, liefe entmutigt gleich wieder ins Nirwana zurück ! Von jeder Religion kann man dieselbe Geschichte erzählen. Der Anlass zu ihrer Entstehung ist die Ankunft eines großen Weltlehrers; er verkörpert eine göttliche Wahrheit und sucht sie zu enthüllen; aber die Menschen reißen sie an sich, nützen sie aus und ziehen eine gleichsam politische Organisation auf. Sie versehen sie mit einer Regierung, Verwaltung und Gesetzen, Glaubensartikeln und Dogmen, Regem und Reglementen, Riten und Zeremonien — alles den Gläubigen als absolut und unantastbar vorgeschrieben. Wie der Staat, so verteilt auch die so errichtete Religion Belohnungen an den Getreuen und Strafen an den, der sich auflehnt oder irregeht, den Ketzer, den Abtrünnigen. Der erste und hauptsächlichste Glaubensartikel dieser etablierten und formellen Religionen pflegt zu sein: "Meine Religion besitzt die höchste, die einzige Wahrheit; alle anderen stecken in der Lüge oder stehen jedenfalls tiefer." Denn ohne dieses grundlegende Dogma hätte keine auf dem Glauben errichtete Religion fortbestehen können. Wenn ihr nicht davon überzeugt seid und nicht verkündet, dass ihr allein die höchste, die einzige Wahrheit besitzt, könnt ihr die Leute nicht so beeindrucken, dass sie euch in Scharen zulaufen. Diese Einstellung ist für die religiöse Mentalität ganz natürlich; aber gerade sie stellt ja die Religion in Gegensatz zum spirtlichen
- 79 - Leben. Die Glaubensartikel und Dogmen einer Religion sind Erzeugnisse des denkenden Geistes, und wenn ihr ihnen zu große Wichtigkeit beilegt und euch in einen fix und fertigen Lebenskodex einschließt, kennt ihr die Wahrheit des Spirtes nicht — und könnt sie auch gar nicht kennen —, die frei und weit über allen Vorschriften und Dogmen steht. Wenn ihr bei einem religiösen Glauben haltmacht, euch an ihn bindet und ihn für die einzige Wahrheit auf der Welt nehmt, so haltet ihr damit zugleich das Voranschreiten und die Entfaltung eures inneren Wesens auf. Von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet, braucht die Religion jedoch nicht unbedingt jeden am Fortschritt zu hindern. Sieht man sie als eine der höchsten Betätigungen der Menschheit an und kann man in ihr die Sehnsüchte der Menschen erkennen, ohne darum, vor dem Unvollkommenen allen Menschenwerks die Augen zu verschließen, so kann sie gut ihren Platz unter den Dingen einnehmen, die auf das spirtliche Leben vorbereiten. Wendet man sich ihr ernst und einsichtig zu, so kann man darin die Wahrheit entdecken, die hinter den Formen versteckte Sehnsucht und die ihr zugrundeliegende Eingebung, die durch menschliche Einmischung, Auslegung und Organisation so viele Entstellungen erlitten haben; und bei einer entsprechenden Geisteshaltung kann die Religion, auch so wie sie ist, Licht auf den Weg werfen und dem spirtlichen Bemühen als Hilfe dienen. In allen Religionen findet sich eine gewisse Anzahl von Leuten mit großem emotionalen Vermögen und wirklicher Inbrunst und Aspiration, die aber nur einen ganz einfachen Geist haben und kein Bedürfnis verspüren, sich dem Göttlichen auf dem Weg des Wissens zu nähern. Für solche Naturen ist die Religion nützlich und meistens sogar nötig; denn durch äußere Formen wie die Kirchenzeremonien bietet sie ihrer inneren, spirtlichen Sehnsucht eine Art Hilfe und Stütze. In allen Religionen gibt es auch Gläubige, die ein hohes spirtliches Leben entwickelt haben. Doch haben sie ihre Spirtlichkeit [ihre "Spiritualität"] nicht von der Religion erhalten, sondern sie haben sie in die Religion hineingelegt. Irgendwohin versetzt, in irgendeinen beliebigen Kult hineingeboren, hätten sie dasselbe spirtliche Leben gefunden und gelebt. Ihr eigenstes
- 80- Vermögen, die Kraft ihres inneren Wesens, hat sie zu dem gemacht, was sie sind, nicht aber die Religion, zu der sie sich bekennen. Dies Vermögen in ihnen bewahrt sie davor, dass die Religion für sie zur Sklaverei wird. Nur eben, weil ihr Geist weder stark, noch klar, noch tätig ist, haben sie es nötig, dies oder jenes Dogma für den Ausdruck einer absoluten Wahrheit zu halten, um sich ihm ohne Frage und ohne störende Zweifel anheimzugeben. In allen Religionen bin ich solchen Leuten begegnet, und es wäre ein Verbrechen, sie in ihrem Glauben zu behelligen. Für sie ist die Religion kein Hindernis; im Weg steht sie denen, die das Vermögen haben weiter zu gehen; aber jenen, die nicht über sie hinausschreiten und dennoch bis zu einem gewissen Punkt auf dem Wege des Spirtes vorankommen können, ist sie oft eine Hilfe. Die Religion ist Anstifterin der schlimmsten und der besten Dinge gewesen. In ihrem Namen haben die mörderischsten Kriege und die scheußlichsten Verfolgungen gewütet. Aber welch erhabenen Heldenmut, welch höchste Selbstaufopferung hat sie nicht auch hervorgerufen! Zusammen mit der Philosophie bezeichnet sie die Grenze, die der menschliche Geist bei seinen höchsten Betätigungen erreicht hat. Sie ist Hindernis und Fessel, wenn ihr ihrer äußeren Form versklavt seid; wisst ihr aber ihren inneren Gehalt zu verwerten, so kann sie euch als Sprungbrett in die Reiche des Spirtes dienen. Wer bei einer bestimmten Glaubensform stehen bleibt, oder wer irgendeine Wahrheit entdeckt hat, ist immer geneigt zu meinen, er allein habe die Wahrheit voll und ganz gefunden. Das ist die menschliche Natur! Eine Beimischung von Lüge scheinen die Menschen zu brauchen, damit sie sich aufrecht halten und voranschreiten auf ihrem Weg. Würde ihnen die Wahrheitsschau auf einmal zuteil, so würden sie von ihrem Gewicht erdrückt. Jedesmal, wenn ein Stück der göttlichen Wahrheit und Kraft herabkommt, um sich auf Erden zu offenbaren, wird eine Veränderung in der irdischen Atmosphäre bewirkt. Alle, die empfänglich sind und mit dieser Herabkunft in Fühlung kommen, erwachen zu einer Inspiration, einem Beginn von Schau. Vermöchten sie das Empfangene richtig zu fassen und auszudrücken, so würden sie sagen: "Eine große Kraft ist herabgekommen, mit der ich in
- 81- Fühlung stehe, und was ich davon begreife, will ich euch sagen." Aber die meisten von ihnen können es nicht dabei bewenden lassen, weil sie einen kleinen Geist haben. Es gibt auf Erden mindesten zwei Dutzend Christusse und vielleicht ebensoviele Buddhas; Indien allein kann jede Menge Awatare liefern, nicht zu sprechen von geringeren Verkörperungen. So betrachtet, sieht die Sache grotesk aus; schaut man aber hinter die Oberfläche, so ist das gar nicht so dumm, wie es auf den ersten Blick scheint. Diese menschlichen Personen sind tatsächlich mit einem Wesen, einer Kraft in Kontakt getreten, und je nach Erziehung und Tradition nennen sie sie Buddha, Christus oder mit irgendeinem anderen vertrauten Namen. Man kann schwerlich prüfen, ob sie mit Buddha oder Christus selbst in Verbindung getreten sind. Aber ebensowenig kann jemand behaupten, die von ihnen empfangene Eingebung stamme nicht aus der gleichen Quelle, von der Christus oder Buddha inspiriert waren. Diese menschlichen Werkzeuge können sehr wohl mit einer solchen Quelle in Verbindung gekommen sein; wenn sie schlicht und bescheiden wären, würden sie sich damit begnügen zu sagen, was ihnen widerfahren ist, und weiter nichts. Sie würden erklären: "Ich habe diese Eingebung von jenem großen Wesen erhalten. Statt dessen aber verkünden sie: "Ich bin jenes Wesen." Ich habe einen gekannt, der behauptete Christus und Buddha zugleich zu sein. Er hatte wirklich etwas empfangen, seine Erfahrung war echt; er hatte die göttliche Gegenwart in sich und in den anderen gesehen. Aber die Erfahrung war zu stark für ihn, die Wahrheit zu groß; sein Geist verwirrte sich, und am nächsten Tag ging er auf die Straße und posaunte aus, in ihm seien Christus und Buddha eins geworden. Das eine göttliche Bewusstsein arbeitet hier in all diesen Wesen, bereitet seinen Weg durch all diese Offenbarungen. Heutigentags ist es auf Erden machtvoller am Werk denn je zuvor. Einige werden von ihm in gewissem Grade irgendwie berührt, entstellen aber, was sie empfangen, und machen etwas eigenes daraus. Andere spüren den Kontakt, können jedoch die Kraft nicht aushalten und verlieren unter dem Druck den Verstand. Wenige haben die Fähigkeit, zu empfangen, und die Stärke, zu ertragen, und sie sind es, die Gefäße des vollen Wissens werden, seine Werkzeuge, seine erwählten Mittler.
- 82- Wollt ihr den wahren Wert der Religion erkennen, in der ihr geboren und erzogen worden seid, oder das Land und die Gesellschaft, dem ihr durch Geburt angehört, richtig einschätzen — wollt ihr euch darüber klar werden, wie bedingt die Umgebung ist, in der ihr auf die Welt kamt und aufgewachsen seid, dann braucht ihr nur um die Erde zu reisen, und ihr stellt fest, dass, was ihr für gut hieltet, woanders als schlecht gilt, und was am einen Ort geschätzt wird, am anderen verpönt ist. Alle Nationen und alle Religionen sind gleichermaßen auf einer Masse von Überlieferungen errichtet. In allen begegnet ihr Heiligen und Helden, großen und starken Persönlichkeiten, wie auch engherzigen und bösartigen Menschen. Dann begreift ihr, wie lächerlich es ist zu sagen: "In dieser Religion bin ich erzogen worden, folglich ist sie die einzig wahre; in diesem Land bin ich geboren, darum ist es das beste aller Länder." Dasselbe könnte man genauso für seine Familie in Anspruch nehmen und erklären: "Ich gehöre zu dieser Familie, die an diesem Ort seit so vielen Jahren oder Jahrhunderten gelebt hat; infolgedessen bin ich an ihre Überlieferungen gebunden, sie allein sind vorbildlich." Alles bekommt erst dann einen inneren Wert und wird wirklich, für euch, wenn ihr es durch freie Wahl erworben habt, und nicht, wenn es euch aufgedrängt worden ist. Wollt ihr eurer Religion gewiss sein, so müsst ihr sie wählen; wollt ihr eurer Heimat gewiss sein, so müsst ihr sie wählen; ja, wollt ihr eurer Familie gewiss sein, so müsst ihr sogar diese wählen. Denn wenn ihr ohne Frage annehmt, was der Zufall euch gebracht hat, könnt ihr nicht sicher sein, ob es gut oder schlecht für euch, ob es die Wahrheit eures Lebens ist. Tretet einen Schritt zurück, aus allem heraus, was eure natürliche Umgebung, euer atavistisches Erbe ausmacht, das vom blinden und mechanischen Marsch der Natur erzeugt und euch auf gezwungen worden ist; tretet in euch selbst ein und betrachtet all diese Dinge ruhig und ohne Leidenschaft. Wägt sie gegeneinander ab und wählt frei. Dann könnt ihr wahrhaft sagen: "Das ist meine Familie, meine Heimat, meine Religion." Haben wir ein Stück Wegs in uns zurückgelegt, so entdecken wir, dass es in jedem von uns ein Bewusstsein gibt, das durch die Zeitalter hindurch gelebt und sich in vielen Formen offenbart hat.
- 83- Jeder von uns ist in zahlreichen Ländern geboren worden, hat zu mancherlei Völkern gehört, an die verschiedensten Religionen geglaubt. Warum sollten wir das letzte für das Beste nehmen? Die Erfahrungen, die wir während all dieser Leben in den verschiedensten Gegenden und Religionen gesammelt haben, sind in der inneren Kontinuität bewahrt, die durch alle Geburten anhält. Es gibt in uns viele Persönlichkeiten, die durch diese früheren Erfahrungen geschaffen wurden, und werden wir ihrer bewusst, dann ist es uns nicht mehr möglich, von einer bestimmten Form der Wahrheit als der einzigen Wahrheit zu sprechen, von einem Land als unserer einzigen Heimat, von einer Religion als der einzig wahren. Es gibt Leute, deren wichtigste Bewusstseinselemente offensichtlich zu einem anderen Land gehören als dem, worin sie geboren wurden. Ich habe welche getroffen, die in Europa geboren waren und dennoch ganz klar Inder waren; ich bin anderen begegnet, die einen indischen Körper angenommen hatten und doch zweifellos Europäer waren. Unter den Japanern habe ich manche gesehen, die Inder, andere, die Europäer waren. Und wenn irgend jemand von euch in das Land oder die Kultur geht, womit er innerlich verwandt ist, fühlt er sich dort völlig zuhause. Ist es euer Ziel, frei zu sein mit der Freiheit des Spirts, so müsst ihr euch von allen Banden lösen, die nicht zur inneren Wahrheit eures Wesens gehören, sondern unterbewussten Gewohnheiten entstammen. Wollt ihr euch vollständig, unbedingt und ausschließlich dem Göttlichen weihen, so tut es ganz und aufrichtig; lasst nicht Teile von euch hier und da verkettet bleiben. Ihr mögt einwenden, es sei nicht leicht, mit allen Bindungen radikal zu brechen. Aber habt ihr in eurem Leben zurückgeblickt und die Veränderungen bemerkt, die in euch im Laufe weniger Jahre stattgefunden haben? Tut ihr dies, so fragt ihr euch fast immer, wie ihr nur so fühlen und handeln konntet, wie ihr es unter gewissen Umständen getan habt, und manchmal erkennt ihr euch in der Person, die ihr noch vor zehn Jahren wart, nicht mehr wieder. Wie wollt ihr euch also an das binden, was war oder ist? Und wie wollt ihr im Voraus festlegen, was in Zukunft sein kann oder nicht ? All eure Beziehungen müssen auf innerer Freiheit und Wahl neu
- 84- begründet werden. Die Überlieferungen, in denen ihr lebt oder erzogen worden seid, sind euch durch den Druck der Umgebung, die allgemeine Vorstellung oder die Wahl anderer auferlegt worden. Da ist unweigerlich ein Zwangselement in eurer Ergebung. Auch die Religion ist den Menschen auferlegt worden; meist wird sie durch religiöse Furcht, geistliche oder sonstige Bedrohung aufrechterhalten. Es darf aber in eurer Beziehung mit dem Göttlichen keinerlei Nötigung dieser Art geben; sie muss frei sein, Ergebnis, der Wahl eures Geistes oder Herzens, voll Enthusiasmus und Freude. Was für eine Verbindung ist das, von der man schaudernd sagt: "Ich bin dazu verpflichtet, ich darf nicht anders!" ? Die Wahrheit leuchtet von selbst ein und braucht der Welt nicht auferlegt zu werden; sie hat es durchaus nicht nötig, von den Menschen akzeptiert zu werden. Denn sie besteht aus sich selbst; sie hängt nicht davon ab, was die Leute sagen, bedarf keiner Zustimmung. Wer hingegen eine Religion gründet, braucht viele Anhänger. Macht und Größe einer Religion wird von den Menschen nach ihrer zahlenmäßigen Stärke bemessen, obwohl es darauf bei wahrer Größe nicht ankommt. Die Größe des spirtlichen Lebens liegt nicht in der Zahl. Ich habe das Haupt einer neuen Religion gekannt, den Sohn ihres Gründers, und ihn sagen hören, dass die und die Religion so und so viele Jahrhunderte zu ihrer Errichtung gebraucht habe, während seine, erst 50 Jahre alt, schon über vier Millionen Anhänger habe. "Daran sehen Sie", fügte er hinzu, "wie groß unsere Religion ist!" Die Religionen mögen zwar ihre Größe nach der Zahl ihrer Anhänger berechnen; die Wahrheit aber bleibt immer die Wahrheit, auch wenn sie keinen einzigen Jünger hätte. Der Durchschnittsmensch wird von denen angelockt, die groß angeben, er geht nicht dahin, wo die Wahrheit sich leise offenbart. Jene, die Großes vorgeben, müssen es laut proklamieren, denn wie könnten sie sonst die Menge anziehen ? Die Arbeit, die unbekümmert um das getan wird, was die Leute davon halten, ist nicht bekannt und erreicht die Masse nicht leicht. Die Wahrheit allein braucht keine Reklame; sie verbirgt sich nicht, aber sie drängt sich auch nicht auf. Es genügt ihr sich zu offenbaren, ohne sich um die Ergebnisse zu kümmern, ohne Beifall zu suchen oder Ablehnung zu meiden, von der Billigung oder Missbilligung
- 85- der Welt weder verlockt noch verstört. Wenn ihr zum Joga kommt, müsst ihr darauf gefasst sein, all eure Geistkonstruktionen und alle Gerüste eures Vitalen in die Brüche gehen zu sehen. Ihr müsst bereit sein, in der Luft zu hängen ohne alle Stütze außer eurem Glauben. Ihr werdet euer früheres Ich mit all seinen Bindungen vollständig vergessen und aus eurem Bewusstsein zu reißen haben, um neu geboren zu werden, von aller Knechtschaft frei. Denkt nicht mehr daran, was ihr einmal wart, sondern daran, was ihr zu werden strebt; lebt ganz und gar in dem, was ihr verwirklichen wollt. Wendet euch von eurer toten Vergangenheit ab und blickt geradeaus in die Zukunft. Ihr werdet nur noch eine Religion, eine Heimat, eine Familie haben: das Göttliche.
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Lassen sich alle physischen Krankheiten letztlich auf eine Unordnung im Geist zurückführen? Wenn ja, was für eine geistige Unordnung läge dann zum Beispiel einem Hautausschlag oder einer Halsentzündung zugrunde ?
Es gibt so viele Ursachen für eine Krankheit, wie es Kranke gibt; die Erklärung ist in jedem Fall verschieden. Fragt ihr mich: "Warum habe ich diese oder jene Krankheit?", so kann ich in euch hineinblicken und euch den Grund angeben; aber eine allgemeine Regel gibt es nicht. Krankheiten des Leibes sind nicht immer das Ergebnis einer Unordnung, einer Disharmonie oder einer falschen Regung im Geist. Die Ursache einer Krankheit kann sowohl im Geist als auch im Vitalen liegen; sie kann aber auch mehr oder weniger etwas Physisches sein wie die Krankheiten, die von äußeren Kontakten herrühren. Und endlich rühren gewisse Störungen von irgendeinem Vorgang im Joga her, und auch in diesem Fall sind viele Ursachen möglich. Beschäftigen wir uns also mit den Krankheiten, die jogisch bedingt sind, denn sie gehen uns unmittelbarer und tiefer an. Obwohl sich für eine bestimmte Krankheit nicht immer dieselbe Ursache angeben lässt, können wir Krankheiten doch nach der Art der sie hervorrufenden Ursachen in verschiedene Gruppen einteilen. Die Kraft, die in den Joga Übenden herabkommt und ihm bei der Umwandlung hilft, wirkt auf mannigfache Weise, und die Ergebnisse entsprechen der empfangenden Natur und der Arbeit, die zu tun ist. Insbesondere beschleunigt sie im Wesen die Umwandlung von allem, was dazu bereit ist. Ist es im Geist offen und empfänglich, dann beginnt dieser, von der Jogakraft berührt, rasche Fortschritte zu machen. Das gleiche kann im vitalen Bewusstsein, sobald es bereit ist, oder sogar im Körper geschehen. In diesem aber wirkt die Umwandlungskraft nur bis zu einem bestimmten Punkt, denn die Empfänglichkeit des Körpers ist
- 87- beschränkt. Der stoffliche Bezirk der Welt ist noch in einem Zustand, wo Empfänglichkeit weitgehend mit Widerstand vermischt ist. Ein schneller Fortschritt eines Wesensteils, dem nicht ein entsprechender Fortschritt der anderen Teile folgt, erzeugt einen Missklang in der Natur, eine Verspannung irgendwo, die sich an der Stelle durch eine Krankheit äußern kann. Die Art der Krankheit hängt von der Art der Verspannung ab. Eine bestimmte Sorte greift den Geist an, und die Störung kann sogar zum Irrsinn führen; eine andere Sorte befällt den Körper, und Fieber, ein Hautausschlag oder irgendeine andere mehr oder weniger große Unordnung tritt in Erscheinung. So beschleunigt die Ausübung des Joga einerseits den Vorgang der Umwandlung in den Wesensteilen, die bereit sind, die wirkende Kraft zu empfangen und ihr zu antworten. In dieser Weise gewinnt Joga Zeit. Die ganze Welt ist auf dem Wege fortschreitender Umwandlung: indem man die Disziplin des Joga aufnimmt, fördert man dies Verfahren in einem selbst. Die Arbeit, die auf gewöhnliche Art und Weise Jahre in Anspruch nehmen würde, lässt sich mit Joga in wenigen Tagen oder sogar in einigen Stunden tun. Doch ist es das innere Bewusstsein, das dem Antrieb zur Beschleunigung gehorcht, denn die höchsten Wesensteile folgen der schnellen und gesammelten Bewegung des Joga gern und fügen sich leicht in die Anpassungen und Berichtigungen, die dieser Vorgang ständig verlangt. Andererseits ist der Körper im allgemeinen schwerfällig, träge und stumpf; wenn etwas in ihm dem Wirken der höheren Kräfte nicht antwortet und ihnen widerstrebt, so darum, weil er dem raschen Fortschreiten des übrigen Wesens nicht zu folgen vermag. Er braucht Zeit; er kann nur in seinem eigenen Schritt gehen, wie er es auch im gewöhnlichen Leben tut. Es verhält sich damit wie bei Erwachsenen, die für die begleitenden Kinder zu schnell marschieren; von Zeit zu Zeit müssen sie anhalten, damit die Kleinen sie einholen können. Ein solcher Zwiespalt zwischen dem Fortschritt des inneren Wesens und der Trägheit des Körpers bewirkt im Organismus eine Störung, die sich als Krankheit äußert. Das erklärt auch, warum manche, die sich dem Joga zuwenden, am Anfang gesundheitlich irgendwie zu leiden haben. Das kann allerdings
- 88- vermieden werden, wenn sie behutsam sind und gut achtgeben. Natürlich sind sie auch dann geschützt, wenn ihr Körper eine beträchtliche und ungewöhnliche Empfänglichkeit besitzt. Aber unvermischte Empfänglichkeit, die dem physischen Wesen gestatten würde, mit der inneren Umwandlung Schritt zu halten, ist kaum möglich, es sei denn, die leibliche Substanz wurde schon früher durch eine jogische Disziplin vorbereitet. Im gewöhnlichen Leben des Menschen ist eine zunehmende Störung die Regel. Der Geist und das Vitale folgen der Bewegung der allheitlichen Kräfte so gut sie können, und die Strömung der Evolution und Umwandlung der Welt trägt sie ein Stück Wegs; der Körper jedoch, den Gesetzen der stofflichsten Natur unterworfen, bewegt sich sehr langsam. Nach einigen Jahren, siebzig oder achtzig, hundert oder zweihundert — und das ist wohl das Höchste —, ist das Missverhältnis so groß, dass das äußere Wesen in Stücke geht. Die Kluft zwischen Anspruch und Entsprechung, das wachsende Unvermögen des Körpers, Folge zu leisten, führen zur Erscheinung des Todes. Durch den Joga wird die innere Umwandlung, die in der Schöpfung beständig, wenn auch langsam statthat, gesteigert und beschleunigt; die Gangart der äußeren Wandlung aber bleibt etwa die gleiche wie im gewöhnlichen Leben. Daraus folgt, dass die Disharmonie zwischen innerem und äußerem Wesen bei jemandem, der Joga übt, eher noch größer ist, sofern nicht besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden und ein besonderer Schutz seinem Körper beisteht, damit er dem inneren Gang so gut als möglich folgen kann. Aber sogar in diesem Fall liegt es in der Natur des Körpers, den Marsch zu behindern. Deshalb müssen wir vielen Sadhaks sagen: "Zieht nicht, beeilt euch nicht; gebt dem Körper Zeit zu folgen." Manche müssen jahrelang zurückgehalten werden, und es ist ihnen nicht gestattet, zu viel zu machen oder weit voranzuschreiten. Gelegentlich lässt sich das Gleichgewicht nicht mehr halten; dann gibt es eine Störung, die je nach der Natur des Widerstands und dem Maß an Nachlässigkeit oder aufgewendeter Sorgfalt verschieden ist. Aus diesem Grunde auch folgt auf jede ernsthafte Bewegung des Fortschritts fast unausweichlich eine Zeit der Reglosigkeit. Sie
- 89- scheint denen, die nicht gewarnt sind, eine Periode der Dumpfheit, Stagnierung und Mutlosigkeit zu sein, die allen Fortschritt aufhält, und sie denken bekümmert: "Was ist los ? Verliere ich meine Zeit ? Nichts geschieht." In Wirklichkeit aber ist diese Zeit für die Angleichung nötig; es ist eine Pause, die dem Körper erlaubt, sich weiter zu öffnen, empfänglicher zu werden und sich der vom inneren Bewusstsein erreichten Stufe anzunähern. Die Eltern sind auf dem Weg zu weit vorangegangen; sie müssen haltmachen und das zurückgebliebene Kind nachkommen lassen; dann erst können sie gemeinsam weiterziehen. Jede Stelle des Körpers ist symbolisch für eine innere Bewegung; es gibt eine Welt subtiler Entsprechungen. Das ist ein weites und vielfältiges Thema, und wir können im Augenblick nicht ins einzelne gehen. Der von der Krankheit befallene Körperteil ist ein Hinweis auf die Art der inneren Störung, die stattgefunden hat; er zeigt uns den Ursprung der Krankheit an, bezeichnet ihre Ursache. Er enthüllt auch die Art des Widerstands, der das Wesen daran hindert, in allen Teilen gleich schnell voranzukommen. Und das gibt uns Aufschluss über Behandlung und Heilung; könnte man vollkommen verstehen, wo der Irrtum liegt, herausfinden, was nicht empfänglich gewesen ist, und diesen Teil der Kraft und dem Licht öffnen, dann wäre es möglich, die gestörte Harmonie im Nu wiederherzustellen, und die Krankheit verschwände sogleich. Eine Krankheit kann ihren Ursprung im Geist haben, im Vitalen oder in jedem anderen Teil des Wesens. Dieselbe Krankheit kann verschiedene Ursachen haben; in verschiedenen Fällen rührt sie von verschiedenen Störungen der Harmonie her. Es kann sich auch der Anschein. einer Krankheit bieten, ohne dass da eine wirkliche Krankheit wäre. Wenn ihr dabei genügend bewusst seid, so erkennt ihr, dass einfach irgendwo eine Reibung besteht, ein Aufhalten der Bewegung, und indem ihr die Sache berichtigt, seid ihr auch schon geheilt. Diese Art Krankheit hat keine Wahrheit in sich, selbst wenn sie physische Wirkungen zu haben scheint; sie besteht zur Hälfte aus Einbildung und hat nicht die gleiche Gewalt über die Materie wie eine echte Krankheit. Kurz, die Ursachen einer Krankheit sind mannigfach und dunkel; jede kann von vielem herrühren; immer aber zeigt sie einen
- 90- schwachen Punkt im Wesen auf. Im übrigen muss eine Krankheit, sei ihre Ursache nun stofflicher oder geistiger Natur, äußerlich oder innerlich, bevor sie den physischen Körper befallen kann, eine andere Schicht des Wesens berühren, die diesen Körper umgibt und schützt. Diese subtilere Hülle wird je nach den verschiedenen Lehren Ätherleib, nervliche Hülle usw. genannt. Es ist ein feinstofflicher Leib, aber doch fast sichtbar. Er ähnelt in seiner Dichte den Schwingungen, die man um einen sehr heißen Gegenstand wahrnimmt; er strahlt vom physischen Körper aus und umhüllt ihn rings. Aller Verkehr mit der äußeren Welt geht über diesen Mittler, und ehe der Körper erreicht werden kann, muss dieser befallen und durchdrungen sein. Ist diese Hülle völlig stark und heil, so kann man, ohne im geringsten angesteckt zu werden, in Gebiete gehen, wo die schlimmsten Seuchen wüten, sogar Pest und Cholera. Sie ist der wirksamste Schutz gegen Krankheitsangriffe, doch muss sie vollständig intakt sein, in sich zusammenhängend, aus Elementen gefügt, die restlos im Gleichgewicht sind. Dieser subtile Leib besteht einerseits aus einer stofflichen Basis — eher stoffliche Bedingungen als physischer Stoff — und andererseits aus den Schwingungen unserer psychologischen Zustände. Friede, seelischer Gleichmut, Vertrauen, Glaube an die Gesundheit, gleichbleibende Ruhe und Heiterkeit, und helle Zufriedenheit bilden dies letztere Element in ihm und geben ihm seine Kraft und Substanz. Er ist ein sehr empfindlicher Mittler, der leicht und schnell reagiert; er ist allen möglichen Eingebungen offen, die in einem Augenblick seine Verfassung ändern und nahezu umstellen können. Eine schlechte Eingebung wirkt sehr stark auf ihn, ebenso wie eine gute im umgekehrten Sinn. Niedergeschlagenheit und Entmutigung haben einen verheerenden Einfluss; sie durchlöchern ihn gleichsam, schwächen ihn zutiefst, brechen jeden Widerstand und öffnen ihn den feindlichen Angriffen. Das Wirken dieses Mittlers erklärt zum Teil, warum oft Leute füreinander eine unwillkürliche, nicht von der Vernunft bestimmte Zuneigung oder Abneigung empfinden. Der Hauptgrund für diese Reaktion liegt in dieser Schutzhülle. Wir fühlen uns leicht von jenen angezogen, die unsrer nervlichen Hülle neue Kraft zuführen;
- 91- wir empfinden einen Widerwillen gegen solche, die sie stören oder ihr schaden. Alles, was ihr ein Gefühl von Erweiterung, Behagen und Wohlbefinden gibt, was in ihr Glück oder Vergnügen hervorruft, übt auf uns eine unmittelbare Anziehung aus; ist die Einwirkung umgekehrt, so begegnet ihr eine schützende Antipathie. Wenn zwei Personen sich treffen, haben sie oft den gleichen Eindruck voneinander. Dies ist zwar nicht die einzige Ursache der Anziehung, aber eine der häufigsten. Könnten alle Teile des Wesens in dessen zunehmender Umwandlung gleichzeitig voranschreiten, in Übereinstimmung mit dem inneren Gang der Welt, dann gäbe es keine Krankheiten, keinen Tod. Aber es müsste buchstäblich das. gesamte Wesen sein, ganzheitlich, von den höchsten Ebenen, wo es geschmeidiger ist und sich im erforderlichen Maß den umwandelnden Kräften fügt, bis zum Stofflichsten hinunter, das, seiner Natur nach starr und festgelegt, sich jeder schnellen Änderung der Form widersetzt. Es gibt Zonen, die dem Wirken jogischer Kräfte viel mehr Widerstand entgegensetzen als andere, und die sie betreffenden Krankheiten sind viel schwerer zu heilen. Das sind die stofflichsten und äußerlichsten Teile des Wesens mit den ihnen eigenen Beschwerden, wie Hautkrankheiten und Zahnschmerzen. Ich kenne aus zuverlässiger Quelle die Geschichte eines Jogi, der fast hundert Jahre seines Lebens an den Ufern des Narmada zugebracht hatte; er erfreute sich noch guter Gesundheit und sah blendend aus. Ein Jünger bot ihm eines Tages eine Medizin gegen Zahnschmerzen an; er lehnte jedoch mit der Bemerkung ab, der Zahn habe ihn schon mehr als zweihundert Jahre lang geplagt. Dieser Jogi hatte also eine solche Herrschaft über die Natur erlangt, dass er mehr als zweihundert Jahre leben konnte, und dennoch hatte er die ganze Zeit ein Zahnweh nicht zu bezwingen vermocht! Gewisse Krankheiten, die man für sehr gefährlich hält, sind am leichtesten zu heilen; andere, denen man nicht viel Wichtigkeit beimisst, können besonders hartnäckig Widerstand leisten. Neun Zehntel der Gefahr einer Erkrankung kommen von der Angst. Sie kann euch die scheinbaren Symptome einer Krankheit geben, ja euch sogar tatsächlich krank machen, so machtvoll wirkt sie sich aus. Neulich erfuhr die Frau eines Aschrambesuchers, die
- 92- aber selbst den Joga nicht übt, dass im Haus ihres Milchmanns ein Fall von Cholera ausgebrochen sei; sie bekam es mit der Angst, und im nächsten Augenblick begannen sich die Symptome der Krankheit zu zeigen. Doch wurde sie rasch geheilt, weil wir die äußeren Zeichen sich nicht in die wirkliche Krankheit entwickeln ließen. Es gibt physische Vorgänge, die vom Druck des Joga herrühren, und die manchmal unbegründete Ängste hervorrufen; diese können aber Schmerz verursachen, wenn sie nicht zurückgewiesen werden. Es gibt zum Beispiel einen gewissen Druck auf den Kopf, von dem wir schon gesprochen haben und den viele fühlen, vor allem am Anfang, wenn etwas in ihnen noch verschlossen ist und sich öffnen soll. Es ist ein Unbehagen ohne Bedeutung und leicht loszuwerden, wenn man es als Auswirkung eines Drucks von Kräften erkennt, die im Körper mit aller Macht ein schnelles Ergebnis bewirken und die Umwandlung beschleunigen wollen. Indem man dem ruhig begegnet, kann sich diese Auswirkung in eine gar nicht unangenehme Empfindung wandeln. Beunruhigt man sich aber, so bekommt man gewiss heftige Kopfschmerzen, wenn nicht sogar Fieber. Das Unbehagen stammt von einem Widerstand in der Natur; könnt ihr ihn aufgeben, so seid ihr das Unbehagen im Nu los; wenn ihr euch aber fürchtet, kann es zu etwas viel Schlimmerem werden. Welcher Art eure Erfahrung auch sei, lasst der Angst niemals Raum; ihr müsst ein unerschütterliches Vertrauen bewahren und das Gefühl haben, dass, was geschieht, zu geschehen hatte. Habt ihr einmal den Weg eingeschlagen, müsst ihr tapfer alle Folgen eurer Entscheidung auf euch nehmen. Trefft ihr aber eure Wahl und weicht dann zurück, wählt dann von neuem und weicht wieder zurück, immer unentschlossen, immer zweifelnd, immer ängstlich, so schafft ihr eine Disharmonie in eurem Wesen, die nicht nur euren Fortschritt hemmt, sondern alle möglichen Störungen im geistigen und vitalen Wesen, sowie Unbehagen und Verstimmungen im Körper verursachen kann.
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