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Kann ein Jogi einen Bewusstseinszustand erreichen, der ihn in den Stand setzt, alles zu wissen, auf alle Fragen zu antworten, auch solche, die sich auf schwerverständliche wissenschaftliche Probleme beziehen, wie zum Beispiel die Relativitätstheorie?
Theoretisch und grundsätzlich ist es einem Jogi nicht unmöglich, alles zu wissen. Natürlich hängt alles vom Jogi ab. Es gibt aber Wissen und Wissen. Der wahre Jogi weiß nicht auf mentale Weise. Er weiß nicht in dem Sinne alles, dass er Zugang hätte zu allen Informationsquellen, noch dass sein Gehirn alle Fakten des Universums enthielte, noch dass sein Bewusstsein einer fabelhaften Enzyklopädie gliche. Er weiß vermittels seines Vermögens, Dinge, Personen und Kräfte in sich zu fassen oder sich mit ihnen dynamisch ineinszusetzen, oder auch weil er in einem Bewusstsein lebt oder mit einem solchen in Fühlung steht, wo sich die Wahrheit und das Wissen befinden. Denn wenn ihr im Bewusstsein der Wahrheit seid, ist euer Wissen das der Wahrheit. Und auch in diesem Fall kann man unmittelbar wissen, indem man mit dem zu Wissenden eins ist. Wenn euch ein Problem vorgelegt wird oder ihr gefragt werdet, was in einer bestimmten Lage zu tun sei, so könnt ihr mit genügend aufmerksamem und gesammeltem Blick das erforderliche Wissen und die richtige Antwort von selbst erscheinen sehen. Nicht durch sorgfältige Anwendung einer Theorie erlangt ihr Wissen, noch durch die geistige Arbeit des Zergliederns und Ableitens. Der wissenschaftliche Geist braucht diese Verfahren, um zu seinen Schlüssen zu kommen. Doch das Wissen des Jogis ist unvermittelt und stellt sich unmittelbar ein; es ist nicht deduktiv. Will ein Ingenieur die genaue Lage für eine Brücke ermitteln, den Verlauf des Bogens und den Strebungswinkel, so stellt er Berechnungen an, prüft und vergleicht seine Informationen, urteilt und folgert aufgrund seiner Unterlagen. Ein Jogi aber hat das alles nicht nötig; er blickt, hat die Schau der Brücke, sieht, dass die Brücke so und nicht anders zu bauen ist, und diese Wahrnehmung ist sein Wissen.
- 94- Obwohl es allgemein und auch in einem gewissen Sinn stimmen mag, dass ein Jogi alles weiß und auf alle Fragen aus seiner eigenen Schau und seinem Bewusstsein antworten kann, so heißt das doch nicht, dass es nicht eine Sorte Fragestellungen gibt, auf die er weder eingehen will noch kann. Ein Jogi, der das unmittelbare Wissen hat, das Wissen der eigentlichen Wahrheit der Dinge, würde es vielleicht nicht für nötig halten oder es schwer finden auf Fragen zu antworten, die ganz zum Bereich menschlicher Gedankengebäude gehören. Vielleicht könnte oder möchte er keine Probleme oder Schwierigkeiten lösen, mit denen man ihm kommt und die sich nur auf die Täuschung und den Anschein der Dinge beziehen. Sein Wissen funktioniert nicht im denkenden Geist; stellt ihr ihm beschränkte Fragen von dieser Art, so antwortet er wohl nicht. Es ist töricht zu meinen, wie es gewöhnlich geschieht, dass man ihm wie einem Superschulmeister irgendeine unwissende Frage stellen und von ihm Informationen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlangen könne, und dass er bestimmt antworten werde. Das ist ebenso dumm wie vom spirtlichen Menschen Taten und Wunder zu erwarten, die den gewöhnlichen äußeren Geist befriedigen und vor Bewunderung in die Knie sinken lassen. Zudem ist der Begriff Jogi sehr unbestimmt und weit. Es gibt viele Arten von Jogis, viele Richtungen und Klassen spirtlichen und okkulten Suchens, sowie verschiedene Höhen der Entwicklung. Es gibt Jogis, deren Kräfte nicht über die geistige Ebene hinausreichen; andere haben sie überstiegen. Alles hängt vom Feld ihrer Bemühung ab, von der erreichten Höhe, vom Bewusstsein, mit dem sie in Beziehung stehen und in das sie eintreten.
Gehen die Wissenschaftler nicht manchmal über die geistige Ebene hinaus? Man sagt, Einstein habe seine Relativitätstheorie nicht durch einen Verstandesprozess entdeckt, sondern durch eine plötzliche Inspiration. Hat diese Inspiration etwas mit dem Übergeist zu tun?
Die Inspiration, die dem Wissenschaftler eine neue Wahrheit enthüllt, kommt aus dem intuitiven Geist. Er empfängt das Wissen in Form einer direkten Wahrnehmung auf der höheren geistigen
- 95- Ebene, die von einem noch höheren Licht erleuchtet wird. Das alles hat aber nichts mit dem übergeistigen Wirken zu tun, und dies Gebiet des höheren Geistes ist von der übergeistigen Ebene weit entfernt. Die Menschen denken gar zu leicht, sie hätten ganz und gar göttliche Gebiete erstiegen, wenn sie sich nur etwas über die Durchschnittsebene erhoben haben. Es gibt viele Grade zwischen dem gewöhnlichen Menschengeist und dem Übergeist, viele Etappen und Zwischenstufen. Wenn ein gewöhnlicher Mensch mit nur einer dieser Zwischenstufen unmittelbar in Berührung käme, würde er überwältigt und geblendet; die Gewalt der erblickten Unermesslichkeit würde ihn erdrücken, er verlöre sein Gleichgewicht; und dabei wäre es noch lange nicht der Übergeist! Um auf das vorher Gesagte zurückzukommen: hinter der weit verbreiteten Idee, ein Jogi wisse alles und könne auf alle Fragen antworten, steht die Tatsache, dass es eine geistige Ebene gibt, wo die Erinnerung an alles bewahrt wird und immer vorhanden ist. Alle zur Erde gehörigen Bewegungen des Geistes sind in diesem Gebiet eingetragen. Wer dazu fähig ist und sich die Mühe macht, kann an diesen Ort gehen und alles lesen und erkunden, was er will. Dies Gebiet darf aber keineswegs für eine der übergeistigen Ebenen gehalten werden. Und doch muss man, um auch nur dorthin zu gelangen, die Geräusche des physischen oder stofflichen Geistes zum Schweigen bringen, alle Empfindungen beiseite lassen und jede Gedankenregung anhalten; man muss das Vitale verlassen und sich von der Abhängigkeit vom Körper befreien. Erst dann kann man in dies Gebiet auf Erkundung gehen. Seid ihr jedoch genügend interessiert, um die dazu nötige Anstrengung zu machen, so könnt ihr an diesen Ort gelangen und lesen, was ins Gedächtnis der Erde geschrieben ist. Wenn ihr also in tiefes Schweigen tretet, könnt ihr eine Bewusstseinsstufe erreichen, wo es möglich ist, auf all eure Fragen eine Antwort zu erhalten. Und ist jemand bewusst der ganzen Wahrheit des Übergeistes geöffnet und bleibt dauernd in Fühlung mit ihr, so kann er sicherlich auf jede Frage antworten, die vom übergeistigen Licht eine Antwort verdient. Die Fragen müssen aus einem Gefühl für die Wahrheit und Wirklichkeit hinter den Dingen kommen. Manche vieldiskutierten Probleme sind nichts
- 96- als ein Gespinst mentaler Abstraktionen, oder sie bewegen sich an der täuschenden Oberfläche der Dinge. Diese Pseudoprobleme gehören nicht zum echten Wissen; sie sind eine Entstellung des Wissens; ihre eigentliche Substanz ist Unwissen. Gewiss kann das übergeistige Wissen eine Antwort — nämlich seine eigene — auch auf Probleme geben, die vom geistigen Unwissen aufgeworfen werden; doch wäre diese Antwort für jene, die die Frage stellen, wohl kaum befriedigend, ja nicht einmal verständlich. Ihr dürft nicht erwarten, dass der Übergeist in der gleichen Weise wirke wie der Geist, oder dass sich das der Wahrheit eigene Wissen mit der Halberkenntnis der Unwissenheit verquicken lasse. Das System des Geistes ist eine Sache — der Übergeist aber eine ganz andere, die aufhören würde, übergeistig zu sein, wenn sie sich den Ansprüchen des geistigen Systems fügen würde. Die beiden haben kein gemeinsames Maß und lassen sich nicht nebeneinander stellen.
Wenn das Bewusstsein die übergeistigen Freuden erlangt hat, interessiert es sich dann noch für die Dinge des Geistes?
Der Übergeist interessiert sich für geistige Dinge nicht auf dieselbe Weise wie der menschliche Geist. Er hat seine eigene Art, an allen Bewegungen des Universums Anteil zu nehmen, aber aus einer andern Sicht und mit einer andern Schau. Die Welt zeigt sich ihm in einem ganz andern Licht als ihrem gewöhnlichen Anschein. Es gibt eine Umkehrung des Ausblicks. Alles von daher Wahrgenommene sieht anders aus, als es dem Geist erscheint, oft gerade gegenteilig. Die Dinge bekommen eine andere Bedeutung; ihr Aussehen, ihre Bewegung, ihr Verfahren, alles sie Betreffende wird mit andern Augen gesehen. Alles, was hier geschieht, wird vom Übergeist verfolgt; die Bewegungen des Geistes sowie auch die des Vitalen und Stofflichen, das gesamte Spiel des Universums, sind für ihn von größtem Interesse, aber auf andere Weise. Etwa der gleiche Unterschied besteht zwischen dem Interesse, das der am Marionettentheater hat, der die Fäden zieht und weiß, was die Puppen zu tun haben, also den Willen kennt, der sie bewegt, so dass sie etwas anderes gar nicht machen können, und
- 97- dem Interesse der Zuschauer, die das Spiel betrachten, aber nur sehen, was von einem Augenblick zum andern geschieht, ohne mehr zu wissen. Wer dem Stück folgt und sich außerhalb seines Geheimnisses befindet, interessiert sich auf viel stärkere, intensivere, leidenschaftlichere Weise für das Geschehen und verliert sich in erregter Aufmerksamkeit an das Unvorhergesehene und Dramatische des Ablaufs; der andere, der die Fäden hält und alles in Bewegung setzt, ist selbst unbewegt und ruhig. Eine gewisse Intensität des Interesses kommt von der Unwissenheit; sie hängt eng mit der Täuschung zusammen und verschwindet, wenn man aus ihr heraus ist. Das Interesse, das die Menschen an den Dingen haben, ist in der Täuschung begründet. Würde sie aufgehoben, so fänden sie das Spiel überhaupt nicht mehr interessant, sondern trocken und fade. Darum hat diese ganze Unwissenheit und Täuschung auch so lange gedauert, weil der Mensch sie liebt, weil er sich an sie und den besonderen Reiz, der damit zusammenhängt, klammert.
Was muss man tun, um seine physische Verfassung zu ändern, eine Heilung zu bewirken oder eine Unvollkommenheit des Körpers zu beheben? Soll man sich darauf konzentrieren und seinen Willen einsetzen, oder einfach in dem Vertrauen leben, dass es getan werde, oder es ganz der göttlichen Kraft anheimstellen, dass sie das gewünschte Ergebnis zu ihrer Zeit und auf ihre Art herbeiführe?
Das alles sind verschiedene Verhaltensmöglichkeiten, und jede kann unter bestimmten Bedingungen wirksam sein. Die Methode, mit der ihr am meisten Erfolg haben werdet, hängt von dem Bewusstsein ab, das ihr in euch entwickelt habt, und von der Beschaffenheit der Kräfte, die ihr ins Spiel zu bringen vermögt. Ihr könnt im Bewusstsein der radikalen Heilung leben und durch die Kraft eurer inneren Formation die äußere Wandlung langsam herbeiführen. Oder ihr kennt und seht die Kraft, die das Nötige vermag, und versteht sie zu handhaben; dann könnt ihr sie rufen und auf die Stellen konzentrieren, wo ihre Arbeit nötig ist, und sie wird selbst die Wandlung bewirken. Oder ihr übergebt eure
- 98- Schwierigkeit dem Göttlichen und bittet es um Heilung, indem ihr euer ganzes Vertrauen in die göttliche Kraft setzt. Aber was ihr auch tut, welches Verfahren ihr auch anwendet, sogar wenn ihr viel Geschick und wirkliche Macht erworben habt — ihr müsst das Ergebnis in der Hand des Göttlichen lassen. Versuchen dürft ihr zwar immer, aber es ist Sache des Göttlichen, euch die Frucht zu gewähren oder zu versagen. Da hört eure persönliche Macht auf; kommt das Ergebnis, so bringt es die Macht des Göttlichen, nicht die eure. Ihr fragt euch, ob es richtig ist, das Göttliche um solche Dinge zu bitten. Es ist gewiss nicht schlechter, sich wegen einer körperlichen Unvollkommenheit an das Göttliche zu wenden als wegen eines moralischen Fehlers. Jedenfalls müsst ihr spüren, was ihr auch verlangt und welches eure Bemühung auch sei — gerade während ihr selbst euer Bestes versucht und euch des Wissens oder der Macht bedient, die euch zu Gebote steht —, dass das Ergebnis völlig von der göttlichen Gnade abhängt. Habt ihr mit dem Joga einmal angefangen, muss alles, was ihr tut, in einem Geist der Hingebung getan werden. Eure Haltung muss folgende sein: "Ich strebe und versuche, so gut ich kann, meine Unvollkommenheiten zu heilen; aber das Ergebnis empfange ich allein aus den Händen des Göttlichen."
Hilft es, zu sagen: ich bin mir des Ergebnisses sicher, ich weiß, das Göttliche wird mir geben, was ich nötig habe?
Ihr könnt es so nehmen. Gerade die Intensität eures Glaubens mag besagen, dass das Göttliche schon über das Gelingen der Sache entschieden hat. Ein unerschütterlicher Wille ist das Zeichen der Gegenwart des göttlichen Willens, ein Beweis für das, was sein wird.
Was für Kräfte sind am Werk, wenn man schweigend meditiert?
Es kommt darauf an, wer meditiert.
- 99- Muss man sich denn nicht in der schweigenden Meditation völlig leer machen? Wie kann es also darauf ankommen, wer meditiert?
Aber wenn ihr euch leer macht, so ändert das doch nicht die Natur eures Strebens und auch nicht dessen Bereich. In manchen bewegt sich das Streben auf der geistigen oder der vitalen Ebene; andere streben mit einer spirtlichen Sehnsucht. Von der Art des Strebens hängt es ab, wie die Kraft antwortet und wie sie wirkt. Sich in der Meditation leer machen schafft ein inneres Schweigen; das heißt nicht, dass man nun nichts mehr oder nur eine träge und tote Masse sei. Wenn man sich zu einem leeren Gefäß macht, lädt man ein, was es füllen wird. Die Beschaffenheit des Bewusstseins und der gewohnte Grad der Eindringlichkeit bestimmen jedoch nicht nur die ins Spiel gebrachten Kräfte, sondern auch ihre Wirkensweise: ob sie helfen und vollbringen oder ob sie fehlschlagen oder gar hindern und schaden werden. Es gibt zahlreiche Bedingungen, unter denen man meditieren kann, und jede hat ihre Wirkung auf die herabkommenden und uns durchdringenden Kräfte. Meditiert ihr allein, so zählt eure eigene innere und äußere Verfassung. Meditiert ihr in einer Gruppe, so ist eure allgemeine Verfassung von größter Bedeutung. In beiden Fällen aber sind die Bedingungen immer verschieden, und die antwortenden Kräfte sind nie zweimal die gleichen. Eine richtig ausgeübte gemeinsame Konzentration kann eine bemerkenswerte Kraft haben. In einer alten Überlieferung heißt es, wenn zwölf aufrichtige Menschen ihren Willen und ihre Sehnsucht vereinen, um das Göttliche zu rufen, so müsse es sich offenbaren. Aber der Wille muss einsinnig, die Sehnsucht völlig aufrichtig sein. Denn diejenigen, die den Versuch machen, können auch in einer Art Trägheit oder gar in irrigem und verkehrtem Begehren vereint sein, und das Ergebnis ist dann schlimm. Beim Meditieren ist ein Zustand völliger und unbedingter Aufrichtigkeit im gesamten Bewusstsein von allergrößter Bedeutung. Es ist entscheidend, dass man weder sich selbst noch die anderen täuscht und sich auch von ihnen nicht täuschen lässt. Wir haben schon gesagt, wie eitel und nutzlos es wäre, das Göttliche
- 100 - täuschen zu wollen. Oft wünschen die Leute gewisse Dinge, sie haben eine geistige oder vitale Vorliebe; sie möchten, dass die Erfahrung auf bestimmte Weise geschehe oder eine gewisse Wendung nehme, die ihre Ideen, Begierden oder Vorlieben befriedigt; sie bleiben nicht unparteilich, wie ein weißes Blatt bereit, das Geschehen treu und schlicht aufzunehmen. Wenn es ihnen dann nicht gefällt, können sie sich leicht selbst etwas vormachen; sie sehen etwas, aber sie verdrehen es ein wenig und machen etwas anderes daraus; sie biegen eine an sich schlichte und gerade Sache von ihrem Sinn ab, um sie zu einer außerordentlichen Erfahrung aufzubauschen. Wenn ihr euch in Meditation begebt, müsst ihr so unverstellt und einfach sein wie ein Kind, nicht mit dem äußeren Geist dazwischenfunken, nichts erwarten, auf nichts bestehen. Habt ihr diesen Zustand erlangt, dann kommt alles auf die Sehnsucht an, die in euch ist. Erstrebt ihr zutiefst Frieden, so gewährt er sich euch; ist es Kraft, Macht, Wissen, so gewähren auch sie sich — alle aber nur im Maße eures Fassungsvermögens. Und wenn ihr das Göttliche ruft, auch dann — vorausgesetzt, dass es euren Ruf hört, das heißt, dass euer Ruf genügend rein und stark ist, um es zu erreichen — empfangt ihr seine Antwort.
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Was ist der Grund für den Widerwillen, den man instinktiv gegen bestimmte Tiere wie Schlangen und Skorpione empfindet?
Dieser Widerwille, wie auch jeder andere, ist keine unbedingte Notwendigkeit. Keinerlei Widerwillen mehr zu haben ist eine der grundlegenden Errungenschaften des Joga. Der Widerwille, von dem du sprichst, kommt von der Furcht; ohne Furcht gäbe es ihn nicht. Diese Furcht gründet sich nicht auf Vernunft, sie ist instinktiv; sie ist nicht individuell, sondern arteigen — eine allgemeine, zur gesamten Menschheit gehörige Regung. Wenn man einen menschlichen Körper annimmt, nimmt man gleichzeitig einen Haufen Regungen, Rassenvorurteile, Gefühle, Assoziationen, Anziehungen, Abneigungen und Ängste auf, die der Menschheit eigen sind. Doch von einem andern Gesichtspunkt aus gibt es in der Natur der Anziehungen und Abneigungen etwas sehr Persönliches; denn diese Regungen sind nicht für alle die gleichen und hängen vor allem von der Schwingungsart des Vitalen in jedem ab. Manche. Leute empfinden nicht nur keinen Widerwillen gegen Schlangen, sondern haben für sie geradezu eine Sympathie, eine vitale Affinität, eine Vorliebe. Die Welt ist voll von Dingen, die weder angenehm noch schön sind; doch das ist kein Grund, in dauerndem Widerwillen gegen sie zu leben. Alle Empfindungen, die den menschlichen Geist stören und schwächen, wie Schreck, Abscheu und Angst, können gemeistert werden. Ein Jogi muss solche Reaktionen überwinden; denn von den ersten Schritten im Joga an ist es nötig, in Gegenwart aller Wesen, aller Dinge und Geschehnisse völlige Heiterkeit zu bewahren. Immer gilt es ruhig, unbewegt und unerschütterlich zu bleiben; darin besteht die Kraft des Jogis. Die gefährlichsten wilden Tiere können ihm nichts anhaben, wenn er vor ihnen vollkommenen Frieden und Gleichmut bewahrt. Widerwille ist eine Regung der Unwissenheit. Er ist eine instinktive Abwehrbewegung. Was aber vor Gefahr am besten schützt, ist nicht unvernünftiges Zurückschrecken, sondern Erkenntnis,
- 102 - das Wissen um die Natur der Gefahr, und bewusste Anwendung der Mittel, die sie entfernen oder beseitigen. Die Unwissenheit, die den unvernünftigen Regungen zugrunde liegt, ist der allgemeine Zustand der Menschheit; doch sie kann überwunden werden, denn wir sind nicht unbedingt an die grobe menschliche Natur gebunden, die uns umgibt und von der das äußere Wesen ausgeht. Die Unwissenheit wird durch das Wachsen des Bewusstseins aufgehoben; was euch nottut, ist Bewusstsein, immer mehr Bewusstsein, ein lauteres, einfaches, helles Bewusstsein. Im Licht dieses vollkommenen Bewusstseins erscheinen die Dinge, wie sie sind und nicht, wie sie erscheinen wollen. Es ist wie eine Leinwand, die alle Dinge getreulich in ihrem Ablauf zeigt. Darauf lässt sich klar erkennen, was hell und was dunkel, was gerade und was krumm ist. Versenkt man sich als bloßer Zuschauer, so wird das Bewusstsein wie eine Leinwand oder ein Spiegel; ist man tätig, so gleicht es einem Scheinwerfer. Man braucht ihm nur die gewünschte Richtung zu geben, um in vollem Licht zu sehen, was auch immer es sei, gleich wo. Der Weg zu diesem vollkommenen Bewusstsein besteht darin, euer jetziges Bewusstsein zu steigern, indem ihr es aus seinen Gleisen und Grenzen heraushebt, es erzieht oder dem göttlichen Licht öffnet, damit dieses in ihm voll und frei wirken kann. Aber das Licht kann sein Werk erst dann ganz lind unbehindert tun, wenn ihr euch aller Begierde und aller Angst entledigt habt und im Geist ohne Vorurteile, im Vitalen ohne Vorliebe, im Physischen ohne Furcht und Anziehung seid, die euch trüben und festhalten können. Widerwille ist eine Regung der Schwäche. Er stellt sich ein, weil ihr eine unangenehme oder schmerzhafte Berührung erfahren habt, denn ihr schreckt vor dem zurück, was euch weh tut. Die Atmosphäre eines Wesens, eines Tieres oder Menschen, kann euch schaden — obgleich es sich nicht bei jedermann so verhalten muss — und sobald sie euch berührt, stutzt ihr, um sie zu vermeiden. Wäret ihr aber stark genug, so könntet ihr die Gefahr fernhalten und sie daran hindern, euch zu erreichen und euch etwas anzutun. Denn ihr würdet gleich sehen und wissen, dass da etwas Schlechtes ist,
- 103 - und euch mit einem Schutzwall umgeben; und auch wenn es sich euch näherte, könnte es euch nichts anhaben; ihr würdet in seiner Gegenwart heil und unerschüttert bleiben.
Wenn das Göttliche, das ganz Liebe ist, am Ursprung der Schöpfung ist, woher kommen dann all die Übel, von denen es auf der Erde wimmelt?
Alles kommt vom Göttlichen; doch hat der Höchste die Welt nicht unmittelbar aus sich hervorgehen lassen: bewusste Kraft aus ihm hat sich über viele absteigende Stufen ausgebreitet, ist über viele Mittler gegangen. Viele Schöpfer, oder besser gesagt Bildner (formateurs), Gestalter von Formen, haben an der Schöpfung der Welt teilgenommen. Es sind Zwischenmächte, und ich nenne sie lieber Bildner als Schöpfer, weil sie dem Stoff nur seine Form, seinen Charakter, seine Natur geben. Sie sind zahlreich gewesen; manche haben harmonische und heilbringende Dinge gebildet, andere hingegen schlechte und schädliche. Manche sind eher Entsteller und Verunstalter gewesen als Bildner, denn durch ihre Einmischung haben sie verdorben, was andere gut begonnen hatten.
Ist nicht unsre stoffliche Welt sehr weit unten auf der Stufenleiter der Welten, aus denen die Schöpfung besteht?
Unsre Welt ist die stofflichste, doch heißt das nicht, dass sie "sehr weit unten" sei. Wenn sie unten ist, so deshalb, weil sie dunkel und unwissend, nicht weil sie stofflich ist. Es ist falsch, das Wort Stoff oder Materie mit Dunkelheit und Unwissen gleichzusetzen. Zudem leben wir nicht nur in der stofflichen Welt; vielmehr ist sie eine der zahlreichen Welten, in denen wir gleichzeitig existieren, und in gewisser Weise die wichtigste von allen. Sie ist das Feld der Konkretisierung aller Welten, der Ort, wo alle sich zu offenbaren haben werden. Im Augenblick ist sie zwar unharmonisch und dunkel; das ist aber nur ein Unfall, ein schlechter Start. Eines Tages wird sie schön, rhythmisch, voller Licht sein; denn für jene Vollendung wurde sie geschaffen.
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Ist es einem Jogi möglich, ein Künstler zu werden? Wie verhalten sich Kunst und Joga zueinander?
Die beiden sind nicht so gegensätzlich, wie du zu glauben scheinst. Nichts hindert einen Jogi daran, ein Künstler zu sein, und nichts einen Künstler, ein Jogi zu werden. Doch wenn man im Joga steht, findet eine große Umwertung statt, in der Kunst wie in allem übrigen. Sie ist nicht mehr so überragend groß und wichtig, wie sie dem Künstler vorkommt. Sie bleibt nicht Selbstzweck, sondern wird zum Mittel. Der Künstler hört auf zu meinen, die ganze Welt drehe sich um das, was er tut, oder seine Arbeit sei das Bedeutendste, was es je gegeben hat. Seine im Allgemeinen so anspruchsvolle Persönlichkeit zählt nicht mehr; er ist ein Vermittler, ein Kanal. Seine Kunst dient ihm dazu, seine Beziehung zum Göttlichen auszudrücken; er macht von ihr diesen Gebrauch, wie er ihn auch von jedem andern Vermögen seiner Natur hätte machen können.
Wenn aber ein Künstler den Joga übt, hat er dann noch den Drang zu schaffen?
Warum nicht? Er kann seine Beziehung zum Göttlichen mit seiner Kunst genauso gut ausdrücken wie mit jedem anderen Mittel. Wollt ihr, dass eure Kunst die höchste und wahrste sei, so muss sie eine ins Stoffliche herabgebrachte göttliche Welt ausdrücken. Alle echten Künstler haben ein Gefühl dieser Art: den Eindruck, Mittler zu sein zwischen einer höheren Welt und dem physische Dasein. In diesem Licht betrachtet sind Kunst und Joga nicht sehr verschieden. Gewiss, der Künstler hat meist nur ein unbestimmtes Gefühl und nicht das Wissen. Dennoch habe ich welche gekannt, die es hatten; sie arbeiteten bewusst an ihrer Kunst, sie wussten, was sie taten. Bei ihrem Werk stellten sie nicht ihre Persönlichkeit als wichtigsten Faktor in den Vordergrund; sie betrachteten ihre Arbeit als Darbringung an das Göttliche; sie versuchten, darin ihre
- 105 - Beziehung zum Göttlichen auszudrücken. Dies war der anerkannte Zweck der Kunst im Mittelalter. Die frühen Maler und die Kathedralenbauer im mittelalterlichen Europa hatten keinen anderen Kunstbegriff. In Indien kam die ganze Architektur, Skulptur und Malerei aus dieser Quelle und wurde von diesem Ideal inspiriert. Die Lieder der Mirabai und die Musik von Tjagaradsch, die Poesie der Gottbegeisterten, der Heiligen und Rischis, gehören zu den größten Kunstschätzen der Welt.
Wird die Arbeit eines Künstlers besser, wenn er Joga macht?
Die Disziplin der Kunst hat als Kern das gleiche Prinzip wie die Disziplin des Joga. Das Ziel ist in beiden, immer bewusster zu werden; in beiden muss man lernen, etwas zu sehen und zu fühlen, was jenseits der gewöhnlichen Schau und Empfindung liegt, sich in sein Inneres zu versenken, um von dort tiefere Dinge heraufzubringen. Um das Bewusstsein ihrer Augen zu steigern, müssen Maler eine Disziplin üben, die selbst schon fast ein Joga ist. Wirkliche Künstler suchen hinter den Anschein zu blicken, um mit ihrer Kunst eine innere Welt auszudrücken, und durch diese Konzentration entwickeln sie ein Bewusstsein, das dem durch Joga erlangten gleicht. Warum sollte also das jogische Bewusstsein für das künstlerische Schaffen keine Hilfe sein? Ich habe Leute gekannt, die wenig Ausbildung und Geschick hatten und die dennoch durch Joga ein bemerkenswertes Vermögen zu schreiben und zu malen erwarben. Ich kann euch zwei Beispiele geben. Zunächst das von einer jungen Frau, die völlig ungebildet war; sie war Tänzerin von Beruf und tanzte gut. Als sie mit Joga angefangen hatte, tanzte sie nur noch für Freunde; und ihr Tanz erreichte eine Tiefe des Ausdrucks und der Schönheit wie nie zuvor. Dazu begann sie trotz ihrer mangelnden Bildung ausgezeichnet zu schreiben; sie hatte Visionen und drückte sie in sehr schöner Sprache aus. Doch ging es mit ihrem Joga auf und ab, was sich bei ihr auf verblüffende Weise zeigte; war sie in guter Verfassung, so schrieb sie wirklich interessante Sachen; fiel sie aber in ihr gewöhnliches Bewusstsein zurück, so wurde ihr sich selbst
- 106 - überlassener Geist wieder dumpf und dumm und völlig unschöpferisch. Der andere Fall ist der eines jungen Mannes, der zwar Kunst studiert hatte, aber nur sehr oberflächlich. Als Sohn eines Diplomaten war er auf die diplomatische Laufbahn vorbereitet worden; er lebte aber im Luxus, und seine Studien gingen nicht weit. Doch als er Joga übte, begann er inspirierte Zeichnungen symbolischer Art zu machen und brachte darin ein inneres Wissen zum Ausdruck. Schließlich wurde er ein großer Künstler.
Warum haben Künstler im Allgemeinen einen unbeständigen Lebenswandel und einen losen Charakter?
Die so sind, befinden sich fast dauernd im vitalen Bewusstsein. Der äußerst empfindsame vitale Teil in ihnen ist durch die Kräfte jener Ebene sehr leicht zu beeinflussen und empfängt von dorther alle möglichen Eindrücke und Impulse, über die sie gar keine Kontrolle haben. Oft auch sind sie geistig sehr frei und glauben nicht an die engen gesellschaftlichen Konventionen und die Moral, die das Leben der gewöhnlichen Leute regieren. Sie fühlen sich nicht an die üblichen Verhaltensregeln gebunden und haben in ihrem eigenen Innern das höhere Gesetz noch nicht gefunden, das jene ersetzen muss. Und da sie nichts haben, womit sie die Begierden im Zaum halten können, führen sie oft ein ausschweifendes Leben. Doch ist es nicht immer so. Ich habe zehn Jahre unter Künstlern gelebt und viele getroffen, die bürgerlich waren bis ins Mark; sie waren verheiratet und etabliert, gute Väter und Gatten, durchaus in Übereinstimmung mit den striktesten moralischen Vorstellungen, was zu tun und zu lassen sei. In einem ganz bestimmten Fall kann Joga den schöpferischen Drang eines Künstlers aufhalten. Liegt der Ursprung seines Schaffens in der vitalen Welt, so verliert er, seine Eingebung, wenn er ein Jogi wird, oder besser gesagt, die Quelle seiner Eingebung inspiriert ihn nicht mehr; denn die vitale Welt erscheint ihm dann in ihrem wahren Licht, nimmt ihren wirklichen Wert an, und dieser Wert ist sehr bedingt. Die meisten, die sich
- 107 - Künstler nennen, schöpfen ihre Eingebung aus der vitalen Welt, und diese Eingebung bringt, nichts Hohes oder Großes mit sich. Wenn aber ein echter Künstler, einer der seine Eingebung in einer höheren Welt sucht, sich dem Joga zuwendet, so wird er feststellen, dass seine Eingebung unmittelbarer und machtvoller, ihr Ausdruck klarer und tiefer wird. Bei denen, die einen wirklichen Wert haben, steigert das Vermögen des Joga ihren Wert; bei jenen aber, die nur über einen falschen Anschein von Kunst verfügen, verschwindet dieser Anschein oder verliert jedenfalls die Anziehung für sie. Die erste schlichte Wahrheit, die dem aufgeht, der ernstlich Joga übt, ist die Bedingtheit seines Tuns im Verhältnis zur Alloffenbarung, während ein Künstler im Allgemeinen eitel ist und sich für höchst bedeutend hält, eine Art Halbgott in der Menschenwelt. Viele Künstler sagen, wenn sie nicht von der Wichtigkeit ihres Schaffens überzeugt wären, könnten sie gar nichts machen. Dennoch habe ich welche gekannt, deren Eingebung aus einer höheren Welt stammte und die trotzdem nicht meinten, dass, was sie machten, von so gewaltiger Bedeutung sei. Diese Haltung steht dem echten Geist der Kunst näher. Wird ein Mensch wahrhaft dazu geführt, sich durch eine Kunst auszudrücken, so hat das Göttliche dieses Mittel gewählt, um sich auszudrücken, und in diesem Fall verbessert Joga seine Kunst und tut ihr keinen Abbruch. Die Frage ist eben die: ist der Künstler vom Göttlichen berufen oder selbsternannt?
Aber kann einer, der Joga übt, sich dichterisch auf solche Höhen erheben wie Shakespeare und Shelley? Dafür gibt es wohl kein Beispiel.
Warum nicht? Das Mahabharata und das Ramajana sind bestimmt nicht weniger hoch, als was Shakespeare oder irgendein anderer Dichter geschaffen hat. Nach der Überlieferung sind es die Werke von Menschen, die Rischis waren und sich einer jogischen Tapasja unterzogen hatten. Die Gita, die wie die Upanischaden zu den größten literarischen und spirituellen Werken gehört, wurde nicht
- 108 - von jemand ohne jogische Erfahrung verfasst. Und worin sind die berühmten in Indien und Persien von Mystikern und Sufis geschriebenen Gedichte denen eures Milton und Shelley unterlegen? Also von Menschen geschrieben, die für ihre Heiligkeit und Frömmigkeit bekannt waren? Und kennst du denn alle Jogis und all ihre Werke? Kannst du sagen, wer unter den Dichtern und Schöpfern in bewusster Fühlung mit dem Göttlichen stand und wer nicht? Es gibt Menschen, die nicht offiziell Jogis sind, keine Gurus, und die keine Jünger haben; die Welt weiß nicht, was sie machen; sie rennen weder dem Ruhm nach, noch ziehen sie die Aufmerksamkeit der Leute auf sich; sie haben aber ein sehr hohes Bewusstsein, sind in Fühlung mit einer göttlichen Macht, und wenn sie schaffen, so tun sie es von dorther. Die besten indischen Malereien und viele der besten Skulpturen und Architekturen sind von buddhistischen Mönchen geschaffen, die ihr Leben in Kontemplation und spirtlicher Übung verbrachten; sie taten eine höchst künstlerische Arbeit, kümmerten sich aber nicht darum, der Nachwelt ihren Namen zu hinterlassen. Der Hauptgrund, warum Jogis im Allgemeinen nicht für ihre Kunst bekannt sind, ist die Tatsache, dass sie ihren künstlerischen Ausdruck nicht für den wichtigsten Teil ihres Lebens halten und ihm nicht so viel Zeit und Energie widmen wie einer, der einfach Künstler ist., Zudem gelangt, was sie tun, nicht immer an die Öffentlichkeit. Wie viele gibt es, die große Dinge geschaffen haben, ohne sie der Welt bekannt zu machen!
Haben Jogis schönere Theaterstücke gemacht als Shakespeare?
Das Theater ist sicher nicht die höchste Kunst. Allerdings hat mir ein Schriftsteller einmal gesagt, das Theater sei die größte der Künste, und die Kunst sei größer als das Leben. Aber das ist eine Meinung, die sich bestreiten lässt... Die meisten Künstler sind in dem Irrtum befangen, das Kunstschaffen trage seinen Zweck in sich selbst, bestehe allein für sich, unabhängig von der übrigen Welt. Kunst, wie diese Künstler sie verstehen, ist wie ein Pilz auf dem weiten Gelände des Lebens, etwas Zufälliges und Äußerliches, mit dem Leben nicht fest
- 109 - Verbundenes; es gehört nicht wesenhaft und unabdingbar zum Dasein. Es stimmt zwar, dass es die Sendung der Kunst ist, Schönheit auszudrücken, jedoch in enger Beziehung mit der Allbewegung. Die größten Nationen und die kultiviertesten Rassen haben die Kunst stets als Teil des Lebens betrachtet und sie in seinen Dienst gestellt. So war es mit der Kunst Japans auf ihren Höhepunkten, und so war es überall, auf allen Höhepunkten in der Geschichte der Kunst. Aber die meisten Künstler sind eine Art Schmarotzer am Rand des Lebens; sie scheinen nicht zu wissen, dass Kunst Ausdruck des Göttlichen im Leben und durch das Leben sein soll. In allem, überall, in allen Beziehungen muss die Wahrheit in ihrem mannigfaltigen Rhythmus offenbart werden, und jede Regung des Lebens muss ein Ausdruck von Schönheit und Harmonie sein. Geschicklichkeit ist nicht Kunst, Begabung ist nicht Kunst. Kunst ist lebendige Harmonie und Schönheit, die es in allen Bewegungen des Daseins zu enthüllen gilt. Diese Offenbarung wahrhafter Kunst ist Teil der göttlichen Verwirklichung, vielleicht sogar ihr größter Teil. Denn vom Übergeist aus betrachtet sind Schönheit und Harmonie ebenso wichtig wie jeder andere Ausdruck des Göttlichen. Doch dürfen sie nicht isoliert für sich allein genommen, aus dem ganzen ausgesondert werden; sie müssen sich zusammentun, um das Leben in seiner Gesamtheit auszudrücken. Die Leute pflegen auszurufen: "Oh, das ist ein Künstler !", als wäre ein Künstler nicht ein Mensch unter anderen, sondern ein hervorragendes Wesen, das zu einer Klasse für sich gehört, und als wäre auch seine Kunst etwas Außerordentliches und Besonderes, das nicht mit den anderen Dingen der Welt zu vermischen sei. Das Schlagwort l'art pour l'art, die Kunst um der Kunst willen, sucht in seiner Zuspitzung diesen Fehler in der Bewertung für eine Wahrheit auszugeben. Ein ähnlicher Irrtum ist es, wenn Leute mitten in ihrem Salon ein gerahmtes Bild aufhängen, das nichts mit den Möbeln und den umgebenden Wänden zu tun hat, aber ein ''Kunstgegenstand" ist. Echte Kunst ist ein Ganzes und eine Gesamtheit, aus einem Guss mit dem Leben. Etwas von dieser innigen und harmonischen Ganzheit könnt ihr im alten Griechenland und Ägypten feststellen;
- 110 - denn dort hatten Bilder, Statuen und Kunstgegenstände ihren Platz und ihren Sinn in der Architektur eines Bauwerks; jede Einzelheit war da Teil des Ganzen und trug zur Harmonie des Gesamten bei. So ist es auch in Japan; jedenfalls war es noch bis vor kurzem so, bis zum Eindringen einer auf das Nützliche und Praktische ausgerichteten Moderne. Ein rein japanisches Haus ist ein wundervoll künstlerisches Ganzes; alles ist genau an seinem Platz, nichts ist zu viel, aber auch nichts zu wenig. Man hat den Eindruck — so sehr stimmt das Ganze —, dass jedes Ding gerade das ist, was es sein soll, und das Haus selbst fügt sich herrlich in die es umgebende Landschaft ein. Ebenso waren in Indien Malerei, Bildhauerei und Baukunst in umfassender Schönheit vereint, in einer Verehrung des Göttlichen aufeinander abgestimmt. So gesehen, ist in der Welt vor einiger Zeit ein starker Verfall eingetreten. Seit der viktorianischen Epoche und in Frankreich seit dem zweiten Kaiserreich ist der künstlerische Geschmack beträchtlich degeneriert. Man begann in den Zimmern Bilder aufzuhängen, die keine Beziehung zu den übrigen Dingen hatten; jedes beliebige Bild und ganz gleich welcher Kunstgegenstand konnte irgendwo angebracht werden; es kam alles ziemlich auf dasselbe hinaus. Kunst war nur noch Zurschaustellung von Können, Geschicklichkeit und Talent; sie hatte sich weit von ihrem wirklichen Sinn entfernt, hatte vergessen, geordneter und ganzheitlicher Ausdruck von Schönheit und Harmonie im Heim des Menschen zu sein. Aber vor kurzem hat sich eine Auflehnung gegen diese Verbürgerlichung des Geschmacks eingestellt. Die Reaktion war so heftig, dass sie völliger Verwirrung glich, es sah aus, als würde die Kunst im Unsinn versinken. Doch langsam ist aus diesem Chaos etwas Sinnvolleres, Zusammenhängenderes aufgetaucht, dem man wieder den Namen Kunst geben kann, eine verjüngte und, wie wir hoffen wollen, erneuerte Kunst. In ihrer Grundwahrheit ist die Kunst nichts Geringeres als der Aspekt der Schönheit in der göttlichen Offenbarung. So betrachtet lassen sich vielleicht nur ganz wenige wahre Künstler finden; es gibt aber welche, und man kann sie sehr wohl als Jogis bezeichnen. Denn wie ein Jogi tritt auch ein Künstler, der diesen Namen verdient, in tiefe Kontemplation, um seine Eingebung zu erreichen
- 111 - und aufzunehmen. Um etwas wirklich Schönes zu schaffen, muss er es vorher mit dem inneren Auge sehen, es tief im Bewusstsein als etwas Gesamtes erfassen. Erst wenn er es so in sich selbst gefunden, geschaut und ergriffen hat, kann er es auch außen vollbringen; seine Schöpfung ist das gegenständliche Erblühen seiner innerlich empfangenen Schau. Auch das ist eine Art jogische Disziplin, denn der Künstler tritt so in Verbindung mit den inneren Welten. Ein Mensch wie Leonardo da Vinci war nichts anderes als ein Jogi. Er war einer der größten Maler, wenn nicht der größte, obwohl sein Schaffen sich nicht auf die Malerei beschränkte. Auch die Musik ist ihrem Wesen nach eine spirtliche Kunst und ist immer mit dem religiösen Gefühl und dem inneren Leben verbunden gewesen. Aber auch sie wurde von ihrer eigentlichen Bestimmung abgebracht; sie ist selbständig geworden, selbstgenügsam, eine Pilzkunst, wie zum Beispiel die Opernmusik. Der größte Teil aller Musikerzeugnisse ist von dieser Art und höchstens vom technischen Standpunkt aus interessant. Ich will damit nicht sagen, dass nicht auch die Opernmusik einer höheren Kunst als Ausdrucksmittel dienen könne; denn welches die Form auch sei, sie kann zu einem tieferen Zweck verwendet werden. Alles hängt von der Sache selbst ab, was dahinter steckt und welchen Gebrauch man davon macht; es gibt nichts, was nicht in den Dienst göttlicher Ziele gestellt werden könnte. Wie andererseits alles Beliebige vorgeben kann, vom Göttlichen zu kommen, obgleich es zur Sorte "Pilz" gehört. Unter den großen modernen Musikern gibt es einige, deren Bewusstsein während ihres Schaffens mit dem höheren Bewusstsein in Beziehung stand. César Franck war ein Inspirierter, wenn er die Orgel spielte; etwas in ihm öffnete sich dem psychischen Leben; er war sich dessen bewusst, und er drückte es weitgehend aus. Als Beethoven die Neunte Sinfonie komponierte, hatte er die Schau einer Öffnung auf eine höhere Welt und der Herabkunft jener Welt auf die irdische Ebene. Wagner hat machtvolle und hellsichtige Einblicke in okkulte Welten gegeben; er hatte die Neigung und das Gespür für das Übersinnliche und empfing dadurch seine größten Eingebungen. Aber er arbeitete vor allem auf der vitalen
- 112- Ebene, und zudem trat sein Geist beständig dazwischen und mechanisierte die Eingebung. Der Großteil seines Werks ist sehr vermischt, allzu häufig dunkel und schwer, wenn auch machtvoll. Doch jedesmal, wenn er die vitalen und mentalen Ebenen zu durchqueren und eine höhere Welt zu erreichen vermochte, waren die empfangenen Einblicke von außerordentlicher Schönheit, wie im Parsifal und in mehreren Passagen von Tristan und Isolde, vor allem am Schluss des letzten Aktes. Oder seht, was die Modernen aus dem Tanz gemacht haben. Vergleicht es mit dem, was Tanz im Altertum war. Tanz war einst eine der höchsten Ausdrucksformen des inneren Lebens; er war mit der Religion verbunden und hatte einen wichtigen Platz in den heiligen Zeremonien, beim Feiern von Festen und bei der Anbetung des Göttlichen. In einigen Ländern erreichte er einen sehr hohen Grad der Schönheit und ungewöhnliche Vollkommenheit. In Japan ist die Tradition aufrechterhalten worden, dass der Tanz zum religiösen Leben gehört, und weil den Japanern ein natürlicher und genauer Sinn für Schönheit und Kunst eignet, haben sie den Tanz nicht entarten und seine ursprüngliche Bedeutung und Bestimmung verlieren lassen. Auch Indien hat die religiösen Tänze gekannt und gepflegt. Zwar hat man in unseren Tagen versucht, die antiken Tänze aufzuerwecken, doch fehlt diesen Wiederbelebungsversuchen jeder religiöse Sinn, und sie gleichen eher rhythmischer Gymnastik als wirklichem Tanz. Heute sind die russischen Tänze berühmt, aber sie drücken die vitale Welt aus, und auch davon eine ihrer erschreckendsten Seiten. Wie alles, was aus jenem Gebiet zu uns kommt, können diese Tänze sehr anziehend oder sehr abstoßend sein; jedenfalls bestehen sie immer nur für sich selbst und nicht für die Offenbarung eines höheren Lebens. Sogar die Mystik der Russen ist von vitaler Art. Als Techniker des Tanzes sind sie hervorragend, aber Technik ist nur ein Instrument. Wenn ein Instrument gut ist, umso besser; ist es aber nicht dem Göttlichen hingegeben, so fehlt ihm, wie bedeutend es auch sei, das Höhere, und es kann nicht den göttlichen Zwecken dienen. Die Schwierigkeit kommt wie gesagt daher, dass die meisten werdenden Künstler meinen, sie könnten
- 113- auf eigenen Füßen stehen und hätten es nicht nötig, sich dem Göttlichen zuzuwenden. Das ist sehr bedauerlich, denn in der göttlichen Offenbarung ist Begabung ein ebenso wichtiges Element wie alles andere. Begabung ist Teil des göttlichen Gefüges, nur muss sie sich dem unterzuordnen wissen, was größer ist als sie. Weiter oberhalb des denkenden Geistes befindet sich ein Bereich, den wir die Welt der Harmonie nennen können. Wenn ihr dorthin gelangen könnt, entdeckt ihr die Wurzel aller Harmonie, die sich auf Erden, in welcher Form auch immer, offenbart hat. Es gibt beispielsweise ein bestimmtes musikalisches Thema, bestehend aus einigen erhabensten Noten, hinter je einem Werk von zwei Komponisten, die nacheinander gelebt haben; das eine ist ein Konzert von Bach, das andere ein Konzert von Beethoven. Die beiden sehen auf dem Papier nicht gleich aus und unterscheiden sich für das äußere Ohr, aber ihr Ursprung ist derselbe. Ein und dieselbe Bewusstseinsschwingung, eine Welle ausdrucksvoller Harmonie, hat die beiden Künstler berührt. Beethoven hat einen größeren Teil erfasst, aber bei ihm ist sie mehr mit den Erfindungen und Einmischungen seines Geistes vermengt. Bach hat weniger empfangen, aber was er vermittelt hat, ist reiner. Die Schwingung war jene des siegreichen Erwachens des Bewusstseins, in triumphaler Geburt aus dem Schoß des Unbewussten tauchend. Diese Schwingung stammte aus jener Welt der Harmonie, von der ich gesprochen habe. Joga kann euch die Fähigkeit geben, an den Quell jeder Kunst zu gelangen; dann seid ihr, wenn ihr wollt, Meister aller Künste. Sehr oft mögen es jene, die dorthin gegangen sind, angenehmer und bequemer gefunden haben, in den Genüssen dieser Schönheit und Glückseligkeit zu bleiben, ohne sie auf Erden zu offenbaren und ihnen einen Leib zu geben. Aber diese Enthaltsamkeit ist nicht die letzte Wahrheit des Joga; es ist vielmehr eine Entstellung, eine Minderung der dynamischen Freiheit des Joga, Ergebnis des negativen asketischen Geistes. Der Wille des Göttlichen ist es, sich zu offenbaren, nicht sich in völlige Untätigkeit, in absolutes Schweigen zurückzuziehen. Wäre das göttliche Bewusstsein wirklich bloß unoffenbarte Untätigkeit und Seligkeit, so hätte es nie eine Schöpfung gegeben.
- 114-
Ist nicht Hingebung und Opfer dasselbe?
In unserem Joga ist kein Platz für Opfer. Doch kommt natürlich alles darauf an, welchen Sinn ihr dem Wort gebt. Eigentlich heißt es heiligen, dem Göttlichen etwas durch Darbringung weihen. Aber in der heute üblichen Bedeutung ist Opfer mit Verlust verbunden, es hat etwas Negatives an sich. Diese Art Opfer ist keine Erfüllung, sondern eine Minderung, eine Selbsteinbuße. Denn es sind eure Möglichkeiten, die ihr opfert, die Verwirklichungen eurer Persönlichkeit, von der stofflichen bis zur höchsten spirtlichen Ebene. Opfer beschränkt euer Wesen. Wenn ihr physisch euer Leben, euren Körper opfert, verliert ihr all eure Möglichkeiten in der stofflichen Welt; ihr gebt die Vollendung eures irdischen Daseins auf. Ebenso könnt ihr euer Leben moralisch opfern; ihr verzichtet auf den vollen Umfang und die freie Entfaltung eures inneren Wesens. In dieser Idee des Sichaufopferns ist immer etwas von Verpflichtung, von Zwang, von auferlegter Selbstverleugnung. Dies ist ein Ideal, das für die tieferen und weiteren spontanen Bewegungen der Seele keinen Raum lässt. Mit Hingebung meinen wir nichts derartiges, sondern ein spontanes Sichgeben eures Ichs an das Göttliche, an ein größeres Bewusstsein von dem ihr ein Teil seid. Hingebung mindert euch nicht, sondern mehrt euch; eure Persönlichkeit wird durch sie keineswegs beschränkt, geschwächt oder ausgelöscht, sondern gestärkt und vergrößert. Unter Hingebung verstehen wir ein freies, ganzheitliches Sichschenken mit all der Beglückung, die Schenken mit sich bringt; da ist nichts von Opfer dabei. Wenn ihr auch nur im geringsten das Gefühl habt, ein Opfer zu bringen, so ist es nicht mehr die wahre Hingebung; das zeigt, dass ihr euch etwas vorbehaltet oder euch zwar zu geben versucht, aber widerwillig, mit Weh und Ach, und so spürt ihr die Freude des Gebens nicht; oder ihr habt womöglich gar nicht das Empfinden, euch zu geben, sondern vereinnahmt zu werden. Tut ihr irgend etwas in dem Gefühl, dass euer Wesen genötigt wird, so könnt ihr sicher sein,
- 115- dass ihr es auf die falsche Art tut. Wirkliche Hingebung, weitet euch, steigert euer Vermögen; sie schenkt euch mehr, sowohl dem Wert wie auch der Menge nach, als ihr je von euch aus hättet erlangen können. Dieses größere Maß unterscheidet sich von allem, was ihr sonst bekommen hättet; ihr tretet in eine andere Welt, in eine Weite, die euch ohne eure Hingebung unerreichbar gewesen wäre. Das lässt sich mit einem Tropfen vergleichen, der ins Meer fällt; würde er seine Gesondertheit bewahren, so bliebe er eben ein Tröpfchen Wasser und sonst nichts, ein von der es umgebenden Unermesslichkeit erdrücktes Tröpfchen. Indem es aber seine Begrenzung aufgibt, wird es eins mit dem Meer und hat teil an seiner Natur, seiner Weite und seiner Macht. So verhält es sich auch mit der wahren Hingebung. In diesem Vorgang ist nichts Doppelsinniges oder Ungenaues; er ist klar, stark und bestimmt. Wenn ein kleiner Menschengeist vor dem Allgeist steht und an seiner Gesondertheit festhält, so bleibt er eben, was er ist, ein winziges beschränktes Ding, unfähig, die Natur der höheren Wirklichkeit zu erkennen oder auch nur mit ihr in Berührung zu kommen. Die beiden, das Kleine und das Gewaltige, bleiben weiterhin voneinander getrennt und sowohl qualitativ als auch quantitativ völlig verschieden. Gibt sich aber der kleine Menschengeist hin, so verschmilzt er mit dem Allgeist, wird an Wert und Ausmaß eins mit ihm und verliert dabei nichts als seine Begrenzungen und Entstellungen im Austausch für dessen leuchtende Klarheit und Weite. Das kleine Dasein ändert seine Natur; es nimmt die der größeren Wahrheit an, der es sich hingibt. Widersteht der Menschengeist jedoch, dann kämpft er und lehnt sich gegen den Allgeist auf, was unausweichlich zu einem Konflikt führt, in dem das Kleine und Schwache von der Macht des Unermesslichen überwältigt wird. Gibt er sich nicht hin, so bleibt ihm nur seine Auslöschung. Wenn ein Mensch mit dem göttlichen Geist in Berührung kommt und sich hingibt, wird er feststellen, dass sein Geist sogleich beginnt, von seinem Dunkel geläutert zu werden und an der Macht und am Wissen des Allgeistes teilzuhaben. Steht er ihm gesondert und kontaktlos gegenüber, so bleibt er, was er ist, ein Tröpfchen Wissen in der unermesslichen Weite. Lehnt er Sich auf, so verliert
- 116- er den Verstand; sein Denkvermögen nimmt ab und verschwindet schließlich ganz. Das gilt nicht nur für den Geist, sondern auch für alle andern Teile der Natur. Es ist, als wolltet ihr mit jemandem streiten, der viel stärker ist als ihr: das trägt euch nichts ein als einen zerbrochenen Schädel. Warum gegen jemanden kämpfen, der millionenmal stärker ist als ihr? Jede Auflehnung bringt einen Rückschlag, und jedesmal verliert man etwas von seiner Kraft. Das ist wie ein Faustkampf gegen einen weit überlegenen Gegner; man steckt Schlag auf Schlag ein und wird immer schwächer, bis man außer Gefecht gesetzt ist. Dazu braucht gar kein Wille einzugreifen, es wirkt sich von selber aus. Nichts anderes kann geschehen, wenn man sich gegen das Unermessliche auflehnt. Solange ihr in eurem Winkel bleibt und das gewöhnliche Leben führt, passiert euch nichts; tretet ihr aber mit dem Göttlichen in Berührung, so stehen euch nur zwei Wege offen. Entweder gebt ihr euch hin und vereint euch mit ihm und wachst und verklärt euch durch eure Hingebung; oder ihr lehnt euch auf, und all eure Möglichkeiten werden zunichte, eure Verwirklichungskräfte entfernen sich von euch, um sich schließlich in dem aufzulösen, was ihr zu bekämpfen sucht. Über die Hingebung sind viele falsche Ideen im Umlauf. Viele meinen, Hingebung bedeute die Abdankung der Persönlichkeit; doch das ist ein schwerer Irrtum. Tatsächlich ist es der Daseinszweck jedes einzelnen, einen Aspekt des göttlichen Bewusstseins zu offenbaren, und der Charakter dieser Offenbarung, der Ausdruck ihrer besonderen Natur, macht die Persönlichkeit eines jeden aus. Folglich kann der einzelne, wenn er dem Göttlichen gegenüber die richtige Haltung einnimmt, ja nur von all den Einflüssen der niederen Natur geläutert werden, die seine Persönlichkeit mindern und entstellen; diese wird ja nur umso persönlicher, wird mehr sie selbst und vollständiger. Die Wahrheit und Stärke der Persönlichkeit tritt mit umso strahlenderer Eindeutigkeit hervor; ihr Charakter ist viel genauer geprägt, als wenn sie mit der ganzen Dunkelheit und Unwissenheit, dem ganzen Schmutz und der Beimischung der niederen Natur verbunden ist. Das Endergebnis ist eine Erhöhung, Verklärung und Steigerung der Persönlichkeit, deren Möglichkeiten
- 117- sich maximal verwirklichen. Um aber diese Wandlung zu bewirken, muss der einzelne erst alles aufgeben, was seine wahre Persönlichkeit durch Entstellung, Einschränkung und Verdunkelung bindet, herabwertet und beeinträchtigt; er muss alles von sich weisen, was zu den niedrigen Unwissensregungen des gewöhnlichen Menschen und seines blinden, strauchelnden Lebens gehört. Vor allen Dingen muss er seine Begierden aufgeben, denn von allen Regungen der niederen Natur ist Begierde die dunkelste und die am meisten verdunkelnde. Die Begierden stammen aus der Schwäche und dem Unwissen, und sie fesseln euch an eure Schwäche und euer Unwissen. Die Menschen haben den Eindruck, dass ihre Begierden in ihnen selbst entstehen; sie fühlen sie aus den Tiefen ihres Wesens tauchen und nach außen springen. Aber dieser Eindruck trügt. Die Begierden sind Wellen des großen Meers der dunklen niederen Natur und gehen von einer Person zur andern. Die Menschen erzeugen keine Begierden in sich selbst, sondern werden von diesen Wellen überschwemmt. Wer offen und wehrlos ist, den erfassen sie und stoßen ihn endlos umher. Der von Begierden Besessene verliert alles Unterscheidungsvermögen und wähnt, die Befriedigung seines Begehrens sei eine Unausweichlichkeit seiner Natur. In Wirklichkeit hat Begierde nichts mit der wahren Natur des Menschen zu tun. Ebenso verhält es sich mit allen niederen Impulsen wie Eifersucht, Neid, Hass und Gewalttätigkeit. Auch dies sind Regungen, die euch erfassen, Wellen, die euch überspülen und mitreißen; sie entstellen sie gehören nicht zum eigentlichen Charakter der wahren Natur; sie sind kein wirklicher und unabdingbarer Teil von euch, sondern stammen aus dem Meer der umgebenden Dunkelheit und werden von den Kräften der niederen Natur in Bewegung gesetzt. Diese Begierden, diese Leidenschaften haben nichts Persönliches; es gibt an ihnen und in ihrem Wirken nichts, das euch eigentümlich wäre; sie bekunden sich in allen gleich. Die dunklen Regungen des Geistes, wie Zweifel, Irrtümer und Schwierigkeiten, die die Persönlichkeit trüben und ihre Entfaltung und Erfüllung mindern, kommen aus derselben Quelle. Es sind Wellen, die daherziehen und alle packen, die sich als blinde
- 118- Werkzeuge benutzen lassen. Und dennoch hält jeder an der Meinung fest, diese Regungen seien ein Teil von ihm selber und ein schätzenswertes Erzeugnis seiner freien Persönlichkeit. Man trifft sogar Leute, die sich an sie und ihre Schwäche anklammern, als wäre die das Zeichen und die Essenz von dem, was sie ihre Freiheit nennen! Wenn ihr das begriffen habt, dann seid ihr imstande, den Unterschied — den großen Unterschied — zwischen Spiritualität und Moralität zu verstehen, zwei Dinge, die stets verwechselt werden. Das spirtliche Leben, das Leben des Joga, strebt nach einem Wachstum, das zur Einswerdung mit dem göttlichen Bewusstsein führt, und es bewirkt, dass das, was in jedem von uns ist, geläutert, gestärkt, verklärt und vervollkommnet wird. Es gibt uns das Vermögen, das Göttliche zu offenbaren; es hebt den Charakter jeder Persönlichkeit zu ihrem vollen Wert und bringt sie zu ihrem größtmöglichen Ausdruck. Denn dies gehört zum göttlichen Plan. Die Moral hingegen verfährt nach einem Gedankengebäude und stellt mit einer Anzahl Prinzipien, was gut sei und was nicht, einen Idealtyp auf, dem jeder gleichen soll. Dies moralische Vorbild ist im einzelnen und als Ganzes und je nach Zeit und Ort verschieden. Und dennoch behauptet es immer, einzigartig zu sein, ein kategorisches Absolutes; es lässt außer sich nichts anderes gelten, ja nicht einmal eine Abweichung in sich selbst. Alle Menschen müssen in die Gussform eines einzigen Ideals gezwängt werden, alle einheitlich und ohne Ausnahme gleichgemacht werden. Weil die Moral ihrer Natur nach so starr und unwirklich ist, ist sie in ihrer Wirkung das grundsätzliche Gegenteil des spirtlichen Lebens. Zwar enthüllt das spirtliche Leben in allen das eine Wesen, aber ebenso auch dessen unendliche Vielfalt. Es arbeitet an der Vielfalt in der Einheit und an der Vervollkommnung in dieser Vielfalt. Die Moral errichtet ein künstliches Modell, das der Mannigfaltigkeit des Lebens und der Freiheit des Spirtes widerspricht. Sie schafft etwas unveränderlich und beschränkt Mentales und verlangt von allen sich anzupassen. Alle sollen sich bemühen, dieselben Eigenschaften und dieselbe ideale Natur zu erwerben. Moral ist nicht göttlich und kommt nicht vom Göttlichen; sie ist Menschenwerk und nichts als menschlich. Sie gründet sich auf eine starre
- 119- Trennung zwischen Gut und Böse; doch das ist eine willkürliche Vorstellung. Sie nimmt relative Dinge und will sie als etwas Absolutes aufzwingen; doch dies Gute und Böse ist je nach Klima, Epoche und Land verschieden. Gewisse moralische Vorstellungen besagen sogar, es gäbe gute und böse Begierden, die einen müsse man annehmen und die anderen ablehnen. Das spirtliche Leben aber heißt uns alle Begierden abweisen. Es ist sein Gesetz, alle Regungen auszuschließen, die uns vom Göttlichen entfernen können. Ihr müsst sie verwerfen, nicht weil sie an sich schlecht wären — denn sie mögen für einen anderen und in einer anderen Sphäre gut sein —, sondern weil sie zu den unwissenden und unerleuchteten Triebkräften gehören, die den Weg zum Göttlichen verstellen. Alle Begierden, gute und schlechte, gehören zu dieser Sorte; denn jegliche Begierde stammt aus einem dunklen und unwissenden Vitalen. Umgekehrt müsst ihr alle Regungen annehmen, die euch dem Göttlichen näherbringen. Ihr nehmt sie an, nicht weil sie an sich gut wären, sondern weil sie euch zum Göttlichen führen. Nehmt daher alles an, was euch zum Göttlichen bringt, weist alles zurück, was euch von ihm entfernt. Sagt nicht: dies ist gut und jenes ist schlecht, und versucht nie, euren Gesichtspunkt anderen aufzudrängen, denn der Weg der anderen mag vom eurigen sehr verschieden sein. Was ihr schlecht nennt, kann für euren Nachbarn, der sich nicht um das göttliche Leben bemüht, sogar ganz ausgezeichnet sein. Zeigen wir an einem Beispiel, wie verschieden Moral und Spiritualität die Dinge betrachten: Die gewöhnlichen moralischen Vorstellungen unterscheiden zwischen dem Freigebigen und dem Geizigen. Und in einer bestimmten Gesellschaft wird der Geizige getadelt und verachtet, während der Freigebige wegen seiner Selbstlosigkeit und allgemeinen Nützlichkeit geschätzt und seine Tugend gepriesen wird. Aber vom spirtlichen Gesichtspunkt aus befinden sich beide auf derselben Stufe; die Freigebigkeit des einen und der Geiz des andern sind Entstellungen einer höheren Wahrheit, einer größeren göttlichen Macht. Es gibt ein Vermögen, das in seiner göttlichen Bewegung Kräfte, Dinge und alles, was es besitzt, auf allen Ebenen, von der stofflichsten bis zur spirtlichsten,
- 120- frei aus sich hervorwirft, ausbreitet und verstreut. Hinter dem Freigebigen und seiner Großmut steht ein Seelentypus, der diese Bewegung ausdrückt, dies Vermögen weiter Austeilung und Verbreitung. Es gibt auch ein anderes Vermögen, das in seiner göttlichen Bewegung Kräfte, Dinge und alles, was sich besitzen lässt, von der stofflichsten Ebene bis zur höchsten, sammelt, zusammenbringt, anhäuft und aufspeichert. Der geizig Gescholtene war dazu geschaffen, ein Werkzeug dieser letzteren Bewegung zu sein. Beide Typen sind wichtig; beide sind in der Gesamtverwirklichung notwendig; die Bewegung, die anzieht und sammelt, ist nicht weniger nützlich als jene, die ausbreitet und verteilt. Diese beiden Menschentypen, wenn sie wirklich dem Göttlichen hingegeben sind, werden Instrumente seines Werks, in gleichem Maße und von gleichem Wert. Doch solange sie sich nicht hingegeben haben, werden beide gleicherweise von Trieben der Unwissenheit bewegt; der eine wird zum Vergeuden gedrängt, der andere zum Raffen; beide lassen sich von Kräften hinreißen, die ihrem eigenen Bewusstsein dunkel sind. Keiner ist dem anderen vorzuziehen. Vom höheren Gesichtspunkt des Joga aus könnte man dem so hochgeschätzten Freigebigen meistens sagen: "Ihre ganzen großzügigen Anwandlungen haben keinen spirtlichen Wert, denn sie kommen vom Ego und von unwissender Begierde." Und umgekehrt findet sich manchmal unter den für geizig Gehaltenen einer, der bei der Arbeit, zu der ihn seine Natur bestimmt hat, voll ruhiger Entschlossenheit sammelt und anhäuft; ist dieser Mensch einmal erweckt, so wird er ein sehr gutes Werkzeug des Göttlichen. Doch im Allgemeinen treiben Egoismus und Begierde den Geizigen ebenso wie sein Gegenstück; es ist die andere Seite derselben Unwissenheit. Beide müssten sich läutern und wandeln, bevor sie mit dem Höheren, das hinter ihnen steht, Fühlung aufnehmen und es ihrer wahren Natur gemäß ausdrücken können. Ebenso könnt ihr viele andere Typen nehmen und durch sie hindurch bis zur ursprünglichen Absicht der göttlichen Kraft zurücksteigen. Jeder ist die Minderung oder die Karikatur des vom Göttlichen vorgesehenen Urbilds, eine geistige oder vitale Entstellung von Dingen, die einen größeren spirtlichen Wert
- 121- haben. Eine falsche Regung hat die Verzerrung geschaffen. Ist diese einmal gemeistert, die richtige Haltung eingenommen, die echte Regung gefunden, so enthüllen all diese Typen gleichermaßen ihren göttlichen Wert; alle sind durch die Wahrheit in ihnen gerechtfertigt, gleich wichtig, gleich nötig, alle verschieden, aber alle unerlässlich für die göttliche Offenbarung.
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