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Die Mutter
Willst Du uns etwas über Joga sagen?
Warum wollt ihr den Joga? Um Macht zu gewinnen? Um Ruhe und Frieden zu finden? Um der Menschheit zu dienen? Keiner dieser Gründe beweist ausreichend, dass ihr für den Pfad bereit seid. Auf folgende Frage müsst ihr Antwort geben: Wollt ihr den Joga aus Liebe zum Göttlichen? Ist das Göttliche das höchste Ziel eures Lebens, so sehr, dass es euch ganz unmöglich wäre, ohne es auszukommen? Fühlt ihr, dass der eigentliche Zweck eures Daseins das Göttliche ist, ohne das es stumpf und sinnlos wäre? Dann, und nur dann lässt sich sagen, dass ihr für den Pfad bereit seid. Dies ist die erste Stufe: Sehnsucht nach dem Göttlichen. Die nächste Stufe besteht darin, diese Sehnsucht zu vertiefen, sie immer wach zu halten, sie lebendig und stark zu machen. Dahin führt euch einzig Konzentration — sich auf das Göttliche ausrichten, sich unbedingt und ganzheitlich seinem Willen und seiner Absicht weihen. Sammelt euch im Herzen. Dringt so weit und so tief ein als möglich. Zieht alle Fäden eures schweifenden Bewusstseins ein, haltet sie zusammen und taucht in das Schweigen eures inneren Wesens. Eine Flamme brennt in der ruhigen Tiefe eures Herzens: dies ist das Göttliche in euch — euer wahres Wesen. Hört auf seine Stimme. Folgt seinen Eingebungen. Es gibt noch andere Zentren der Sammlung, z.B. eines über dem Kopf und eines zwischen den Augenbrauen. Jedes hat seine Wirksamkeit und bringt seine besonderen Ergebnisse. Das zentrale Wesen aber wohnt im Herzen, und aus dem Herzen erwächst jede dynamische Regung, aller Umwandlungswille, alle Kraft der Verwirklichung.
Wie kann man sich auf den Joga vorbereiten?
- 3- Bewusst sein vor allem. Wir sind uns bloß eines geringen Teils unsres Seins bewusst, im Übrigen sind wir unbewusst. Diese Unbewusstheit ist es, was uns an unsre niedere Natur gebunden hält und darin jede Veränderung und alle Umwandlung verhindert. Dieser Unbewusstheit bedienen sich die widergöttlichen Kräfte, um in uns einzudringen und uns zu versklaven. Ihr müsst euch eurer selbst bewusst werden, eurer Natur und eurer Regungen. Ihr müsst wissen, wie und warum ihr etwas tut, fühlt oder denkt. Ihr müsst eure Beweggründe und Antriebe verstehen, die verborgenen und die in Erscheinung tretenden Kräfte, die euch handeln lassen. Ihr müsst gewissermaßen den Mechanismus eures Seins in kleine Teile zerlegen. Erst wenn ihr bewusst seid, könnt ihr beurteilen und auswählen, könnt ihr wahrnehmen, welche Kräfte euch herunterziehen und welche euch weiterbringen. Und wenn ihr zu wissen vermögt, was zu tun und zu lassen ist, wenn ihr das Wahre vom Falschen, das Göttliche vom Widergöttlichen unterscheiden könnt, dann müsst ihr strikt nach diesem Wissen handeln, d.h. entschlossen das eine zurückweisen und das andere annehmen. Bei jedem Schritt seid ihr vor diese Zweiheit gestellt, und bei jedem Schritt habt ihr eure Wahl zu treffen. Ihr müsst geduldig, ausdauernd und unermüdlich wachsam sein. Ihr müsst es immer ablehnen, dem Widergöttlichen die geringste Gelegenheit gegen das Göttliche zu geben.
Soll der Joga um der Menschheit willen getan werden?
Nein, um des Göttlichen willen. Nicht das Wohl der Menschheit suchen wir, sondern die Offenbarung des Göttlichen. Wir sind hier, den göttlichen Willen zu verwirklichen, vielmehr den göttlichen Willen sich in uns verwirklichen zu lassen, um Werkzeuge einer fortschreitenden Verkörperung des Höchsten und der Errichtung seines Reiches auf Erden zu werden. Nur der Teil der Menschheit, der auf den Ruf des Göttlichen antwortet, wird seine Gnade empfangen.
- 4- Ob die Menschheit in ihrer Gesamtheit davon profitieren wird, wenn auch nicht direkt, so doch indirekt, das wird vom Zustand der Menschheit selbst abhängen. Urteilt man nach der gegenwärtigen Lage, so besteht nicht viel Hoffnung. Was ist denn heute die Haltung eines durchschnittlichen Vertreters der Menschheit? Lehnt er sich nicht wütend auf, sobald er auf etwas trifft, das in aller Aufrichtigkeit an der göttlichen Natur teilhat? Hat er nicht das Gefühl, die Herrschaft des Göttlichen käme der Vernichtung seines liebsten Eigentums gleich? Wehrt er sich nicht beständig mit aller Gewalt gegen alles, was das Göttliche beabsichtigt und will? Die Menschheit wird sich sehr ändern müssen, ehe sie hoffen darf, von der Ankunft des Göttlichen irgendeinen Gewinn zu haben.
Wie kommt es, dass wir uns begegnet sind?
Wir sind alle schon in früheren Leben beisammen gewesen, sonst hätten wir uns in diesem nicht treffen können. Wir gehören alle zur selben Familie und haben gemeinsam durch die Zeitalter für den Sieg des Göttlichen und seine Offenbarung auf Erden gearbeitet.
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Was sind die Gefahren des Joga? Ist er für westliche Völker besonders gefährlich? Man hat behauptet, Joga sei gut für den Osten, doch bringe er die westliche Mentalität aus dem Gleichgewicht.
Joga ist für westliche Menschen nicht gefährlicher als für östliche. Alles hängt davon ab, in welchem Geist man an ihn herangeht; gefährlich wird Joga nur, wenn man ihn zu persönlichen Zwecken benutzt. An sich ist er nicht gefährlich, sondern im Gegenteil das Heil und die Sicherheit selbst, sofern man sich ihm im Gefühl seiner Heiligkeit naht, immer eingedenk, dass das Göttliche zu finden das einzige Ziel ist. Gefahren und Schwierigkeiten treten auf, wenn man Joga nicht aus Liebe zum Göttlichen übt, sondern um Kräfte zu erlangen und unter dem Deckmantel des Joga persönliche Ambitionen zu befriedigen. Wenn ihr nicht allen Ehrgeiz von euch weisen könnt, so rührt den Joga nicht an: er ist Feuer, das brennt. Zwei Wege führen zum Joga: Selbstzucht (Tapasja) und Hingebung. Der erstere ist schwer. Da seid ihr auf eure eigenen Mittel angewiesen, ihr könnt einzig auf euch selber zählen, ihr steigt und verwirklicht euren Kräften gemäß. Die Gefahr des Absturzes begleitet euch auf Schritt und Tritt, und strauchelt ihr, so fallt ihr in einen Abgrund, aus dem man selten wieder herauskommt. Der andere Weg, der Weg der Hingebung, ist verlässlich und sicher. Doch gerade hier stoßen die westlichen Menschen auf ihre Schwierigkeit. Man hat ihnen beigebracht, alles zu fürchten und zu meiden, was ihre persönliche Unabhängigkeit bedrohen könnte; sie haben das Gefühl ihrer Individualität schon mit der Muttermilch eingesogen. Und Hingebung heißt ja, dass man auf all das verzichtet. Mit andern Worten, ihr könnt euch, wie Ramakrischna sagt, entweder nach dem Affenjungen oder nach dem Katzenjungen richten. Das Äffchen klammert sich an seine Mutter, um getragen
- 6- zu werden und muss sich sehr gut festhalten; denn lockert es seinen Griff, so fällt es. Im Gegensatz dazu hält sich das Kätzchen nicht an seiner Mutter, sondern wird von ihr gehalten; es hat weder Furcht noch Verantwortung, es braucht nichts zu tun als sich tragen zu lassen und ma ma zu rufen. Wenn ihr in aller Aufrichtigkeit den Weg der Hingebung einschlagt, gibt es keine ernstliche Gefahr und Schwierigkeit mehr. Alles hängt von der Aufrichtigkeit ab. Seid ihr nicht aufrichtig, so fangt den Joga gar nicht erst an. Würde es sich um menschliche Angelegenheiten handeln, so könntet ihr mit einiger Aussicht auf Erfolg eure Zuflucht zur Täuschung nehmen; aber in euren Beziehungen zum Göttlichen ist kein Platz für Täuschung. Das Göttliche betrügt man nicht! Ihr könnt auf dem Weg in voller Sicherheit vorankommen, wenn ihr bis in die Tiefen eures Wesens wahrhaftig und offen seid und wenn es euer einziges Ziel ist, das Göttliche zu erreichen und zu verwirklichen. Es gibt noch eine andere Gefahr; sie hängt mit dem Geschlechtstrieb zusammen. Im Verlauf des Läuterungsprozesses legt der Joga die versteckten Impulse und Begierden bloß und lässt sie an die Oberfläche steigen. Ihr müsst lernen, euch nichts zu verhehlen und nichts zu übergehen. Ihr müsst diesen Regungen der Unwissenheit die Stirn bieten, sie überwinden und umformen. Als erstes jedoch hebt Joga die geistige Kontrolle auf, und die unterdrückten Gelüste, plötzlich freigesetzt, dringen auf das ganze Wesen ein. Bis die geistige Aufsicht durch die göttliche ersetzt ist, gibt es eine übergangszeit, wo eure Aufrichtigkeit und Hingebung auf die Probe gestellt werden. Die Gewalt der Triebe, vor allem des Geschlechtstriebs, rührt daher, dass die Leute sie viel zu wichtig nehmen. Sie begehren heftig dagegen auf und suchen sie unter ihren Willen zu zwingen und in Schach zu halten. Aber je mehr man seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet und denkt: "Ich will das nicht, ich will das nicht", desto mehr ist man daran gebunden. Haltet die Sache von euch fern, tretet beiseite, messt ihr so wenig Bedeutung zu wie möglich, und wenn euch einmal der Gedanke daran kommt, so bleibt gleichmütig und unbekümmert. Den Trieben und Begierden, die durch den Druck des Joga zum Vorschein kommen, gilt es mit
- 7- einem Geist der Gelassenheit und Heiterkeit zu begegnen, als etwas euch im Grunde Fremdem und zur äußeren Welt Gehörigem. Bringt sie dem Göttlichen dar, damit es sie nehmen und verwandeln kann. Seid ihr dem Göttlichen einmal geöffnet und hat es begonnen, in euch herabzusteigen, und besteht ihr dann noch immer auf euren Beziehungen zu den alten Kräften, so ladet ihr Störungen und Schwierigkeiten ohne Ende und Gefahren aller Art ein. Ihr müsst wachsam sein und das Göttliche nicht als schönen Umhang benutzen, um die Befriedigung eurer Begierden zu bemänteln. Es gibt viele sogenannte Meister — sie geben sich selbst für solche aus —, die nichts anderes tun als das. Und wenn man den geraden Weg verlässt und wenig Kenntnis und nicht viel Macht hat, dann geschieht es, dass man einer gewissen Sorte von Wesenheiten zum Opfer fällt, die einen zu ihrem blinden Werkzeug machen und schließlich verschlingen. Es ist verderblich, für etwas gelten zu wollen, das man nicht ist. Man kann Gott nicht täuschen. Kommt nicht zu ihm und sagt: "Ich will die Einswerdung mit Dir", während ihr bei euch denkt: "Ich will Macht und Genuss". Nehmt euch in acht! Denn so geht es stracks auf den Abgrund zu. Und dennoch ist es so einfach, alles Unheil zu vermeiden. Werdet wie Kinder. Gebt euch ganz der Mutter, lasst sie euch tragen, und es gibt keine Gefahr mehr für euch. Das heißt nicht, dass ihr überhaupt keiner Schwierigkeit zu begegnen oder kein Hindernis zu überwinden hättet. Hingebung verbürgt nicht einen glatten, regelmäßigen und stetigen Fortschritt. Und zwar darum nicht, weil euer Wesen noch nicht in sich geeint und auch die Hingebung noch nicht unbedingt und vollständig ist. Nur ein Teil von euch gibt sich, der eine heute, ein anderer morgen, je nachdem. Die jogische Selbstzucht besteht darin, diese auseinanderstrebenden Wesensteile zusammenzubringen und zu einer ungeschiedenen Ganzheit zu verschmelzen. Bis dahin könnt ihr nicht hoffen, von Schwierigkeiten wie Zweifel, Unschlüssigkeit oder Niedergeschlagenheit befreit zu sein. Die ganze Welt ist voll von diesem Gift; mit jedem Atemzug nehmt ihr es auf. Wechselt ihr ein paar Worte mit einem unangenehmen Menschen, oder geht ein solcher
- 8- auch nur an euch vorbei, so könnt ihr schon von ihm angesteckt werden. Es genügt, sich einem Seuchengebiet zu nähern, um befallen zu werden, man braucht gar nichts davon zu wissen. So könnt ihr in ein paar Minuten verlieren, was zu gewinnen euch Monate gekostet hat. Solange ihr zur normalen Menschheit gehört und ein gewöhnliches Leben führt, sind eure Beziehungen zu andern nicht allzu wichtig. Wollt ihr aber das göttliche Leben führen, so müsst ihr sorgfältig auf euren Umgang und eure Umgebung achten.
Wie können wir Einheit und Übereinstimmung in unserm Wesen begründen?
Bleibt in eurem Willen fest und behandelt die widerspenstigen Teile wie ungehorsame Kinder. Wirkt beständig und geduldig auf sie ein; überzeugt sie von ihrem Fehler. Das seelische Wesen in den Tiefen eures Bewusstseins, der Wohnsitz des Göttlichen in euch, ist die Mitte, um welche der Zusammenschluss all dieser auseinanderstrebenden Teile und widersprüchlichen Regungen eures Wesens zu geschehen hat. Seid ihr einmal des seelischen Wesens und seiner Sehnsucht bewusst geworden, so können all diese Schwierigkeiten und all diese Zweifel ausgemerzt werden. Das erfordert mehr oder weniger Zeit, aber des schließlich Gelingens dürft ihr gewiss sein. Sobald ihr euch dem Göttlichen zugewandt und ihm gesagt habt: "Ich will Dein sein", und das Göttliche euch angenommen hat, kann nichts auf der Welt euch daran hindern, es zu werden. Wenn das zentrale Wesen sich einmal überantwortet hat, ist die Hauptschwierigkeit beseitigt. Das äußere Wesen ist wie eine Kruste. Bei gewöhnlichen Leuten ist die Kruste so hart und dick, dass sie sich des Göttlichen in ihnen überhaupt nicht bewusst sind. Wenn aber, und sei es nur für einen Augenblick, das innere Wesen erwacht ist und gesagt hat: "Hier bin ich, und ich bin Dein", so ist es, als wäre eine Brücke geschlagen, und nach und nach wird die Kruste dünner, bis beide Teile völlig zusammenkommen und das innere und äußere Wesen eins sind. Manchem Jogi ist der Ehrgeiz zum Verhängnis geworden. Dieser
- 9- nagende Wurm kann sich lange verborgen halten. Viele betreten den Pfad, ohne von seiner Anwesenheit etwas zu bemerken. Sobald sie jedoch einige Kräfte erlangen, erhebt sich der Ehrgeiz in ihnen, und das umso heftiger, als er sich nicht von Anfang an bekundet hat. Man erzählt die Geschichte von einem Jogi, der wunderbare Kräfte errungen hatte. Eines Tages lud ihn ein Jünger zu einem großen Festmahl ein. Es wurde auf einer langen niedrigen Tafel serviert. Da drangen die Jünger in ihren Meister, seine Kraft auf irgend eine Weise zu erkennen zu geben. Er wusste, dass er das nicht durfte, doch war der Keim des Ehrgeizes noch nicht völlig aus seinem Bewusstsein ausgemerzt, und er dachte: ‚‘Das ist schließlich eine ganz harmlose Sache; sie beweist ihnen, dass so etwas möglich ist und mehrt ihre Ehrfurcht vor Gott." So sagte er zu den Jüngern: ‘‘Entfernt den Tisch, ohne das Tischtuch zu berühren." Die Jünger riefen: ‘‘Aber das geht doch nicht, alles wird herunterfallen!", ‘‘Tut es", beharrte der Meister. Der Tisch wurde weggezogen, und das Wunder geschah: das Tischtuch mit dem ganzen Geschirr darauf blieb in der Luft, als wäre der Tisch noch da. Die Jünger staunten; doch plötzlich sprang der Meister auf und lief aus dem Festsaal, indem er schrie: ‘‘Nie mehr werde ich Jünger haben! Weh mir, ich habe meinen Gott verraten!" Sein Herz brannte; er hatte seine göttlichen Kräfte persönlichen Zwecken dienstbar gemacht. Kräfte zur Schau stellen ist immer ein Fehler. Das bedeutet nicht, dass man von ihnen überhaupt keinen Gebrauch machen darf. Doch soll man sich ihrer so bedienen, wie man sie empfangen hat. Die Einung mit dem Göttlichen verleiht sie, und in den Dienst des göttlichen Willens müssen sie gestellt werden, nicht in den einer mehr oder weniger verkleideten Eitelkeit. Nehmen wir zum Beispiel an, ihr habt die Kraft, Blinde zu heilen. Ihr trefft einen solchen unterwegs. Ist es nun Gottes Wille, dass ihr ihn heilt, so braucht ihr nur zu sagen: ‘‘Lass ihn sehen", und er sieht. Wollt ihr ihm aber die Sicht wiedergeben, einfach um ihn zu heilen, um euch selbst zu überzeugen oder zu beweisen, dass ihr es könnt, dann benutzt ihr eure Kraft, um persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Und in diesem Fall läuft ihr nicht nur Gefahr, diese Kraft zu verlieren, sondern meistens bewirkt ihr auch schwere
- 10- Störungen in dem Betroffenen. Dem Anschein nach unterscheiden die beiden Verhaltensweisen sich nicht. Doch im ersten Fall handelt ihr nach dem Willen des Göttlichen und im andern aus einem persönlichen Antrieb. Wie soll man wissen, werdet ihr fragen, ob es der göttliche Wille ist, der uns handeln lässt? Der Wille des Göttlichen ist nicht schwer zu erkennen. Er ist unmissverständlich. Man braucht dazu auf dem Pfad nicht weit fortgeschritten zu sein. Doch müsst ihr auf seine Stimme hören, die leise, ruhige und friedvolle Stimme in der Stille eures Herzens. Wenn ihr an dieses Lauschen gewöhnt seid und dann etwas dem göttlichen Willen Entgegengesetztes tut, empfindet ihr gleich ein Unbehagen; geht ihr aber trotzdem in der falschen Richtung weiter, so erfasst euch eine schwere Verstimmung. Für diese könnt ihr irgendeine materielle Begründung finden, um auf eurem Weg zu beharren. Dann verliert ihr allmählich die Gabe der Wahrnehmung, und schließlich könnt ihr alles Mögliche begehen, ohne eine Warnung zu erhalten. Wenn ihr aber umgekehrt beim geringsten Unbehagen innehaltet und euer inneres Wesen fragt: ‘‘Wo rührt das her?", so bekommt ihr die richtige Antwort, und die Sache wird völlig klar. Empfindet ihr eine leichte Niedergeschlagenheit oder ein leises Unwohlsein, so versucht nicht, dafür eine äußere Erklärung zu finden. Und wenn ihr in euch geht, um diesen Vorgang zu ergründen, seid absolut gerade und aufrichtig. Zunächst wird euer Denken irgendeine einleuchtende und vorteilhafte Erklärung liefern. Nehmt sie nicht an, sondern blickt darüber hinaus und fragt: "Was steht hinter dieser Regung? Warum habe ich das getan?" Zuletzt entdeckt ihr in einem Winkel versteckt einen Knick, eine kleine Abweichung oder Entstellung in eurer Haltung, und da sitzt die Ursache der Störung. Eine der allgemeinsten Formen des Ehrgeizes ist die Idee des Dienstes an der Menschheit. An dieser Idee oder diesem Werk zu hängen, verrät persönlichen Ehrgeiz. Der Meister, der glaubt, die Menschheit eine große Wahrheit lehren zu müssen, der viele Anhänger wünscht und es gar nicht gerne sieht, wenn sie ihn verlassen, oder der sich des ersten besten bemächtigt, um ihn zu seinem Schüler zu machen, ist offensichtlich der Sklave seines Ehrgeizes.
- 11- Wollt ihr dem Geheiß des Göttlichen folgen, so müsst ihr imstande sein, jegliche Arbeit aufzunehmen, auch wenn sie gewaltig groß ist, und sie am nächsten Tag mit derselben Ruhe niederzulegen, ohne die Verantwortung für eure eigene zu halten. Ihr dürft an keiner bestimmten Lebensweise, dürft an gar nichts hängen. Ihr müsst ganz und gar frei sein. Habt ihr die wahrhaft jogische Haltung, so vermögt ihr alles anzunehmen, was auch immer vom Göttlichen kommt, und ohne Widerstand und ohne Bedauern könnt ihr es aufgeben. Die Haltung des Asketen, der sagt: ,''Ich will gar nichts", und die Haltung des Weltmanns, der sagt: ''Ich will dies oder das", ist die gleiche. Der eine kann an seinem Verzicht ebenso hängen wie der andere an seinem Besitz. Ihr müsst all jene Dinge — und nur jene — annehmen, die vom Göttlichen kommen. Manche können nämlich versteckten Wünschen entstammen. Diese wirken im Unterbewussten und ziehen Sachen an, deren Herkunft ihr vielleicht nicht erkennt, die aber nicht vom Göttlichen, sondern aus verkleideten Begierden stammen. Ihr könnt leicht erkennen, ob etwas vom Göttlichen kommt. Ihr fühlt euch frei und friedvoll. Stürzt ihr euch dagegen auf etwas und ruft aus: ''Endlich habe ich es !", so könnt ihr gewiss sein, dass es nicht vom Göttlichen kommt. Seelischer Gleichmut ist die Grundbedingung für die Einung und Gemeinschaft mit dem Göttlichen.
Gewährt das Göttliche nicht manchmal, was man wünscht?
Gewiss. Ein Jüngling fühlte sich vom Joga angezogen, aber er hatte einen engherzigen und grausamen Vater, der ihn sehr quälte, indem er seiner spirtlichen Sehnsucht mit allen Mitteln entgegenzuwirken suchte. Der Sohn wünschte brennend, von dieser Einmischung befreit zu sein. Da wurde der Vater ernstlich krank; er lag im Sterben. Indessen erwachte im Jüngling die andere Seite seiner Natur, er beklagte sein Unglück und rief aus: ''Mein armer Vater ist so krank! Wie traurig ! Ach, was soll ich tun?" Und der Vater
- 12- wurde gesund. Der Sohn freute sich und wandte sich von neuem dem Joga zu, und von neuem wandte sich der Vater gegen ihn und quälte ihn mit verdoppeltem Grimm. Der Jüngling raufte sich die Haare vor Verzweiflung und jammerte: ''Jetzt stellt sich mir mein Vater mehr denn je in den Weg..." Es kommt wirklich darauf an genau zu wissen, was man will. Das Göttliche bringt immer vollkommenen Frieden und völlige Ruhe mit sich. Eine gewisse Sorte von Bhakta-Anhängern bietet freilich ein ganz anderes Bild. Sie springen herum und lachen und singen in sogenannten Anwandlungen von Frömmigkeit. Tatsächlich leben solche Leute aber nicht im Göttlichen, sondern fast ausschließlich in der vitalen Welt. Ihr sagt, selbst Ramakrischna habe Perioden überreizter Gemütsbewegungen gehabt; tanzend, mit erhobenen Armen, sei er umhergegangen. Damit verhält es sich in Wahrheit so: Die Regung des inneren Wesens mag an sich vollkommen sein, doch macht sie einen für gewisse Kräfte empfänglich, die gerade durch ihre Intensität ein schwaches und anverwandeltes äußeres Wesen mit so heftiger Empfindung füllen, dass sie manchmal nicht mehr zu meistern ist! Überall, wo das äußere Wesen dem inneren Widerstand leistet oder nicht das gesamte empfangene Ananda zu halten vermag, stellt sich im Ausdruck Verwirrung und Anarchie ein. Ihr müsst einen festen Körper und solide Nerven haben. Ihr braucht eine starke Grundlage von Gleichmut in eurem äußeren Wesen. Habt ihr diese, so könnt ihr eine Welt voll Empfindung fassen, ohne sie in Schreien entweichen zu lassen. Das heißt nicht, dass Gemütsbewegung nicht ausgedrückt werden dürfe, doch ist das auf schone, harmonische Weise möglich. Vor Bewegtheit schreien, weinen und tanzen zeigt immer eine Schwäche der vitalen, geistigen oder physischen Natur; denn auf all diesen Ebenen finden diese Regungen zu persönlicher Befriedigung statt. Und einer, der tanzt, herumspringt und schreit, hat das Gefühl, dass seine Stimmung ihn zu etwas Besonderem macht, und seine vitale Natur genießt das außerordentlich. Um den Druck der Herabkunft des Göttlichen auszuhalten, müsst ihr sehr stark und machtvoll sein, sonst geht ihr in Stücke.
- 13- Es gibt Leute, die fragen: ''Warum ist das Göttliche noch nicht erschienen?" Nun, weil ihr nicht bereit seid. Wenn schon ein kleiner Tropfen euch singen, tanzen und schreien lässt, was würde geschehen, wenn das Ganze herunterkäme? Darum sagen wir denen, die in ihrem Körper, ihrem Vitalen und ihrem Geist keine genügend feste und weite Grundlage haben: ''Zieht nicht", das heißt, ''versucht nicht mit Gewalt, die Kräfte des Göttlichen anzuziehen, sondern wartet im Frieden und in der Ruhe." Denn sie könnten die Herabkunft gar nicht aushalten. Doch jenen, die das nötige Fundament haben, sagen wir im Gegenteil: ''Strebt und zieht." Denn sie können die herabkommenden Kräfte des Göttlichen aufnehmen, ohne aus der Fassung zu geraten.
Manchen geschieht es, dass ihnen, sobald sie sich dem Göttlichen zuwenden, jede materielle Stütze und alles, was sie lieben, entzogen wird. Hegen sie zu jemand eine Zuneigung, so verlieren sie ihn ebenfalls.
Das geschieht nicht jedermann, sondern nur denen, die berufen werden. Was auch hinsichtlich des spirtlichen* Lebens der Unterschied zwischen Ost und West sein mag, er liegt nicht in der Grundnatur oder im inneren Wesen, denn das steht unveränderlich fest, sondern in den geistigen Gewohnheiten, den Ausdrucksweisen, die das Ergebnis von Erziehung, Umwelt und anderen äußeren Gegebenheiten sind. In den tiefsten Empfindungen gleichen sich alle Menschen, westliche und östliche; sie unterscheiden sich nur in ihrer Art zu denken und sich auszudrücken. Aufrichtigkeit zum Beispiel ist eine Eigenschaft, die überall die gleiche ist. Aufrichtige, aus welchem Volk oder welcher Rasse auch immer, sind es auf gleiche Weise: nur die der Aufrichtigkeit verliehenen Formen wechseln. Der Geist arbeitet in verschiedenen Völkern verschieden, aber die Tiefen des Herzens sind überall die gleichen. Und im
*Spirt, spirtlich (sprich: Schpirt): Eindeutschung von Spirit, spirituell. Siehe das Gespräch der Mutter über dieses Problem in BOTSCHAFTEN UND VERWIRKLICHUNGEN, sowie den Aufsatz des Übersetzers Geist und Spirt in SRI AUROBINDO: DAS GÖTTLICHE LEBEN IM WERDEN.
- 14- Herzen wohnt viel mehr Wahrheit als in den oberflächlichen Teilen des Wesens, zu denen all die Abweichungen gehören. Sobald ihr tief genug geht, stoßt ihr auf etwas, das in allen eines ist. Alle treffen sich im Göttlichen. Die Sonne ist das Symbol des Göttlichen in der physischen Natur; Wolken mögen ihr Aussehen verändern — sind sie aber verschwunden, so sieht man überall und immer dieselbe Sonne. Wenn ihr euch mit jemand nicht eins fühlen könnt, so zeigt dies, dass ihr in eurem Gefühl nicht tief genug gedrungen seid.
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Es ist eine weitverbreitete Ansicht, dass Visionen ein Zeichen hoher Spiritualität seien. Ist das so?
Nicht unbedingt. Im Übrigen ist Visionen haben eine Sache, das Geschaute verstehen und deuten aber eine andere, und zwar viel schwierigere. Im Allgemeinen werden Leute von Visionen irregeführt, weil sie diesen einen Sinn beilegen, der ihren Wünschen, Hoffnungen und vorgefassten Meinungen zusagt. Zudem gibt es verschiedene Ebenen, auf denen man sehen kann. Es gibt die geistige Schau, die vitale, und es gibt einige, die der stofflichsten Ebene sehr nahe sind. Diese letzteren erscheinen in Formen und Symbolen, die so klar, wirklich und greifbar sind, dass sie völlig materiell aussehen. Und wenn ihr sie zu deuten versteht, könnt ihr sehr genaue Hinweise auf die Umstände und die psychologische Verfassung von Leuten erhalten. Geben wir ein Beispiel. Dies ist eine Schauung, die jemand wirklich gehabt hat: Im brennenden Sonnenschein klimmt ein steiler Weg einen abschüssigen Berghang hinan. Auf ihm rückt mühsam eine von sechs starken Pferden gezogene schwere Kutsche vorwärts. Sie bewegt sich langsam, aber stetig. Nun kommt ein Mann, überblickt die Lage, stellt sich hinter das Gefährt und versucht, es den Berg hinaufzuschieben. Da erscheint jemand, der das Wissen hat, und sagt ihm: ''Was quälst du dich vergeblich ab? Meinst du, deine Anstrengung sei zu irgend etwas nütze? Für dich ist das doch ein unmögliches Beginnen, sogar die Pferde finden es schwierig." Der Schlüssel zum Sinn dieser Schauung liegt im Bild der sechs Pferde. Das Pferd symbolisiert die Kraft, die Zahl sechs die göttliche Schöpfung. Die Kutsche steht für die Verwirklichung, vielmehr das, was verwirklicht, vollbracht, zum Gipfel geführt werden soll, auf die Höhe, wo das Licht sich befindet. Diese Schöpfungskräfte sind göttlich, und dennoch ist auch für sie eine harte Anstrengung nötig, um diese Verwirklichung zu erreichen;
- 16- denn sie müssen unter sehr ungünstigen Bedingungen arbeiten, gegen alle Naturkräfte ankämpfen, die nach unten ziehen. Da tritt nun der Mensch auf und hält sich in seiner Anmaßung und Unwissenheit für jemand, der mit seinem bisschen Geist etwas zuwege bringen kann. Dabei wäre es das Beste für ihn, in die Kutsche einzusteigen, sich gemütlich hinzusetzen und die Pferde ziehen zu lassen. Träume sind etwas ganz anderes. Sie sind schwieriger zu deuten, weil jeder eine eigene Bilder- und Formenwelt für seine Träume hat. Es gibt natürlich Träume, die nicht viel sagen, jene nämlich, die mit der äußerlichsten physischen Bewusstseinsschicht in Verbindung stehen und die das Ergebnis schweifender Gedanken, flüchtiger Eindrücke, mechanischer Reaktionen oder reflexhafter Tätigkeiten sind. Diese Träume sind in Form, Struktur und Bedeutung nicht organisiert; man erinnert sich ihrer kaum, und sie hinterlassen beinah keine Spur im Bewusstsein. Doch auch die Träume, die einen etwas tieferen Ursprung haben, sind noch dunkel, weil sie insofern persönlich geprägt sind, als ihre Gestalt fast ausschließlich von Erfahrungen und Eigentümlichkeiten des Einzelnen abhängt. Allerdings bestehen auch Visionen aus Symbolen, die nicht notwendig in der ganzen Welt Geltung haben. Die Symbolik ist je nach Rasse, Überlieferung und Religion verschieden. Ein Zeichen kann spezifisch christlich, ein anderes hinduistisch sein, ein drittes dem ganzen Osten gemeinsam zugehören, ein viertes nur dem Westen. Träume dagegen sind persönlich, sie hängen von Umständen und Eindrücken des Tages ab. Es ist sehr schwierig für einen Menschen, die Träume eines anderen zu erklären oder zu deuten. Doch kann jeder seine eigenen Träume erforschen, sie entwirren und ihren Sinn entdecken. Ihr möchtet wissen, wie ihr mit den Träumen und dem Traumland umgehen sollt? Werdet zuerst einmal bewusst, eurer Träume bewusst! Achtet auf die Zusammenhänge zwischen ihnen und den Stunden des Wachseins. Erinnert ihr euch eurer Nächte, so wird es euch sehr oft möglich sein, eine Beziehung zwischen eurem Zustand am Tage und dem in der Nacht zu erkennen. Während des Schlafes geht auf der geistigen, vitalen oder einer anderen Ebene stets etwas vor sich; da geschehen Dinge, die euer
- 17- Wachbewusstsein beherrschen. Zum Beispiel sind manche sehr darauf bedacht, sich zu vervollkommnen und strengen sich tagsüber mächtig an. Dann legen sie sich schlafen, und wenn sie am Morgen aufwachen, finden sie von der Bemühung des Vortages keine Spur mehr vor; sie müssen denselben Weg noch einmal gehen. Das zeigt, dass ihre Anstrengung und was sie erreichten den oberflächlichsten oder wachsten Teilen des Wesens zugehörten; doch andere Teile, tiefere oder schläfrigere, sind nicht berührt worden. Im Schlaf gerät man unter den Einfluss dieser Gebiete, die alles verschlucken, was in den Stunden des Wachseins so eifrig aufgebaut wurde. Seid bewusst! Seid euch der Nacht ebenso bewusst wie des Tages. Zunächst gilt es bewusst zu werden, nachher könnt ihr Kontrolle ausüben. Die sich ihrer Träume erinnern, kennen die Erfahrung, im Traum zu wissen, dass sie träumen; sie wissen, dass sie etwas erleben, das nicht zur stofflichen Welt gehört. Hat man einmal dies Wissen, so kann man dort auf die gleiche Weise handeln wie in der stofflichen Welt; man fühlt sich nicht mehr ans Geschehen gebunden; während man träumt, kann man seinen bewussten Willen einsetzen und den Lauf der Traumereignisse völlig andern. Und indem ihr immer bewusster werdet, beginnt ihr euer Wesen während der Nacht ebenso gut in der Gewalt zu haben wie während des Tages, ja vielleicht noch besser. Denn in der Nacht seid ihr der Abhängigkeit vom leiblichen Mechanismus wenigstens teilweise ledig. Die Aufsicht über die Vorgänge im leiblichen Bewusstsein ist viel schwieriger, denn diese sind starrer und für Änderung weniger empfänglich als jene des Geistes und des Vitalen. In der Nacht sind der Geist und das Vitale — vor allem letzteres — sehr aktiv. Am Tag werden sie in Schach gehalten; das physische Bewusstsein zügelt automatisch das freie Spiel ihres Ausdrucks. Im Schlaf ist der Zaum abgenommen, und sie zeigen sich in der ganzen Ursprünglichkeit ihrer natürlichen Regungen.
Was ist die Natur des traumlosen Schlafs?
Im allgemeinen handelt es sich bei dem, was ihr traumlosen Schlaf
- 18- nennt, um eines von zwei Dingen: entweder erinnert ihr euch dessen nicht, was ihr geträumt habt, oder ihr seid in völlige Unbewusstheit gesunken, die sehr dem Tod gleicht, ja ein Vorgeschmack des Todes ist. Doch gibt es einen Schlaf, wo alle Teile des Wesens in Reglosigkeit, Frieden, völliges Schweigen verfallen und das Bewusstsein in Satschidananda eintaucht. Dieser Zustand lässt sich kaum als Schlaf bezeichnen, denn er ist äußerst bewusst. Ein paar darin verbrachte Minuten geben mehr Ruhe und Erholung als Stunden gewöhnlichen Schlafs. Aber das erlangt ihr nicht von ungefähr; lange Übung ist nötig.
Wie geschieht es, dass man im Traum Leute kennerlernt, denen man dann im äußeren Leben begegnet?
Das kommt von Übereinstimmungen, die bestimmte Personen einander näherbringen, Übereinstimmungen in der geistigen oder vitalen Welt. Die Menschen begegnen sich oft auf diesen Ebenen, bevor sie sich auf der Erde treffen. Sie können dort zusammenkommen, miteinander sprechen und alle Beziehungen zueinander haben, die es in der physischen Welt gibt. Manche wissen um diese Betätigungen, andere nicht. Viele, ja die meisten, sind sich ihres inneren Wesens und seiner Beziehungen nicht bewusst, und dennoch kommt ihnen ein bestimmtes neues Gesicht, wenn sie ihm in der äußeren Welt begegnen, ganz bekannt, irgendwie vertraut vor.
Gibt es keine falschen Visionen?
Es
gibt tatsächlich Visionen, die man als falsch bezeichnen könnte. Zum Beispiel
gibt es Hunderte und Tausende von Leuten, die behaupten, Christus gesehen zu
haben. Von allen diesen haben ihn wohl weniger als ein Dutzend wirklich
gesehen, und selbst bei diesen gäbe es noch einiges darüber zu sagen. Was die
andern erblickt haben, ist vielleicht eine Emanation oder ein Gedanke oder
auch nur eine Vorstellung. Es gibt auch große Christusgläubige, die eine
Kraft, ein Wesen, ein sehr leuchtendes Erinnerungsbild geschaut haben, das
auf sie einen starken Eindruck machte. Sie - 19- sahen etwas, von dem sie fühlten, dass es zu einer andern Welt, zu etwas Übernatürlichem gehörte, und das hat in ihnen eine Gemütsbewegung der Ehrfurcht, Verehrung oder Freude geweckt, und weil sie an Christus glaubten, könnten sie sich nichts anderes denken, als dass er es sei. Doch würde dieselbe Schauung oder Erfahrung, wenn sie einem Hindu, einem Moslem oder sonst jemandem zuteil würde, eine andere Form und einen anderen Namen annehmen. Das Geschaute oder Erfahrene mag im Grunde dasselbe sein, aber gemäß den Auffassungen des betrachtenden Geistes druckt es sich verschieden aus. Einzig jene, die über alle Bekenntnisse, Glaubensformen, Mythen und Überlieferungen hinausgehen können, sind in der Lage zu sagen, was es wirklich ist; doch solche gibt es nur sehr wenige. Man muss aller Gedankengebäude ledig sein, von allem befreit, was bloß örtlich oder zeitlich ist, bevor man zu wissen vermag, was man sieht. Spirtliche Erfahrung ist die Fühlung mit dem Göttlichen in einem selbst (oder außerhalb, was auf dasselbe hinauskommt). Und diese Erfahrung ist überall und immer ein und dieselbe, in allen Ländern, bei allen Völkern, sogar zu allen Zeiten. Tretet ihr mit dem Göttlichen in Verbindung, so ist diese Verbindung immer dieselbe, wo oder wann es auch sei. Die Unterschiede treten auf, weil zwischen der Erfahrung und ihrem Ausdruck etwas wie eine Kluft besteht. Sobald ihr eine spirtliche Erfahrung habt (die stets in eurem Bewusstsein stattfindet), übertragt sie sich eurem äußeren Bewusstsein entsprechend der Erziehung, dem Glauben, der geistigen Ausrichtung. Es gibt nur eine Wahrheit, eine Wirklichkeit; aber Formen, in die sie sich überträgt, kann es unzählige geben.
Welcher Art waren die Visionen von Jeanne d’Arc?
Jeanne d'Arc stand offenbar mit Wesenheiten in Beziehung, die dem zugehören, was wir die Welt der Götter nennen (oder, wie die Katholiken sagen, die Welt der Heiligen, obschon das nicht ganz das gleiche ist). Die Wesen, die sie sah, nannte sie Erzengel. Diese Wesen gehören zur Mittelwelt zwischen dem höheren Geist und dem Übergeist, zur Welt, die Sri Aurobindo den Obergeist nennt.
- 20- Das ist die Welt der Schöpfer, der Bildner [formateurs]. Würden dieselben Wesen, die Jeanne d'Arc erschienen und zu ihr sprachen, von einem Inder erblickt, so nähmen sie für ihn ein ganz anderes Aussehen an; denn beim Sehen überträgt man auf das Gesehene die dem Geist vertrauten Formen. Man verleiht dem, was man sieht, das Aussehen dessen, was man zu sehen gewärtigt. Erschiene ein Wesen einer aus Christen, Buddhisten, Hindus und Schintoisten zusammengesetzten Gruppe, so gäbe ihm jeder einen anderen Namen, jeder beschriebe die Erscheinung in unterschiedlicher Weise, und dennoch sprachen alle von ein und derselben Offenbarung. Die man in Indien die Göttliche Mutter nennt, ist für die Katholiken die Jungfrau Maria, für die Japaner Kwannon, die Göttin der Barmherzigkeit, und wieder andere geben ihr noch andere Namen. Es ist dieselbe Kraft, dieselbe Macht, doch wird sie in jeder Religion anders dargestellt.
Welchen Platz nimmt die Disziplin bei der Hingebung ein? Wenn man sich überantwortet, kann man dann nicht auf Disziplin verzichten? Ist Disziplin nicht manchmal ein Hindernis?
Das kann vorkommen. Man muss aber unterscheiden können zwischen einer Entwicklungsmethode oder Disziplin und einem willentlichen Tätigsein. Wenn ihr dem Weg der Hingebung folgt, müsst ihr der persönlichen Anstrengung ein Ende setzen; das heißt aber nicht, dass ihr auch allen Willen beim Tun aufgeben sollt. Ihr könnt im Gegenteil die Verwirklichung beschleunigen, indem ihr euren Willen dem göttlichen Willen zugesellt. Auch das ist Hingebung, in anderer Form. Erforderlich ist nicht passive Unterwerfung, die euch zu einem trägen Klotz werden lässt, sondern dass ihr euren Willen dem Göttlichen zur Verfügung stellt.
Wie aber lässt sich das tun, bevor die Einung vollzogen ist?
Ihr habt einen Willen, und diesen könnt ihr darbringen. Ihr wollt zum Beispiel eurer Nächte bewusst werden. Nehmt ihr nun die Haltung passiver Unterwerfung ein, so sagt ihr euch: ''Sobald es der
- 21- Wille des Göttlichen ist, dass ich bewusst werde, wird es geschehen." Bringt ihr hingegen euren Willen dem Göttlichen dar, so fasst ihr einen Entschluss und sagt: ''Ich werde meiner Nächte bewusst werden." Ihr wollt, dass es sei; ihr wartet nicht einfach untätig ab. Die Hingebung kommt ins Spiel, wenn ihr euch so einstellt: ''Ich gebe meinen Willen dem Göttlichen, habe aber nicht das Wissen; möge der göttliche Wille in mir vollbringen." Euer Wille muss ständig weiterwirken, nicht im Wählen einer bestimmten Tätigkeit, nicht im Verlangen nach irgend etwas, sondern als auf das Ziel gerichtete glühende Sehnsucht. Das ist der erste Schritt. Wenn ihr wachsam und aufmerksam seid, erhaltet ihr sicher einen Wink in Gestalt einer Eingebung, was zu tun ist, und ihr macht euch unverzüglich an die Ausführung. Nur dürft ihr nie vergessen: Hingebung verlangt, dass ihr das Ergebnis eures Tuns annehmt, wie es auch sei, selbst wenn es ganz anders ist, als ihr erwartet habt. Ist dagegen eure Hingebung bloß passive Unterwerfung, so wollt und versucht ihr nichts, und indem ihr auf das Wunder wartet, schlaft ihr ganz einfach ein. Um zu wissen, ob euer Wille und euer Begehren mit dem göttlichen Willen übereinstimmen oder nicht, müsst ihr achtgeben, ob ihr darauf eine Antwort bekommt oder nicht, ob ihr euch bestätigt oder widersprochen fühlt — nicht vom Geist, vom Vitalen oder vom Körper, sondern von etwas, das immer in eurem inneren Wesen da ist, tief im Grunde eures Herzens.
Ist nicht eine zunehmende Meditationsbemühung nötig? Ist es nicht so, dass man umso größere Fortschritte macht, je mehr Stunden man meditiert?
Spirtlichen Fortschritt kann man nicht an der Zahl der in Meditation verbrachten Stunden messen. Erst wenn Meditieren keine Mühe mehr macht, seid ihr wirklich vorangekommen. Es kommt ein Zeitpunkt, wo man sich eher anstrengen muss, der Meditation ein Ende zu setzen; es fällt schwer, nicht zu meditieren, schwer, aufzuhören an das Göttliche zu denken, schwer, ins gewöhnliche Bewusstsein zurückzukehren. Ihr dürft gewiss sein, einen wahren Fortschritt gemacht zu haben, wenn die Ausrichtung
- 22- auf das Göttliche zur Notwendigkeit eures Lebens geworden ist, wenn ihr ohne sie nicht mehr auskommt, wenn sie von früh bis spät natürlich anhält, ganz gleich was ihr sonst noch tut, ob ihr euch zum Meditieren hinsetzt oder euch handelnd und arbeitend bewegt. Worauf es ankommt, ist das Bewusstsein; nur eines ist nötig: ständig des Göttlichen bewusst zu sein.
Ist es denn nicht eine unerlässliche Disziplin, sich zum Meditieren hinzusetzen, und erreicht man damit nicht eine intensivere und konzentriertere Einung mit dem Göttlichen?
Das ist möglich. Aber eine Disziplin als solche ist es nicht, was wir anstreben. Auf das Göttliche ausgerichtet sein bei allem, was wir tun, in allen Tätigkeiten, allen Regungen, das ist es, was wir wollen. Es gibt hier einige, die zum Meditieren angehalten werden; aber andere sind da, von denen es nie verlangt worden ist. Deswegen darf man aber nicht glauben, dass diese keinen Fortschritt machen. Auch sie befolgen eine Disziplin, doch von anderer Art. Mit Andacht und einer inneren Weihung arbeiten und handeln ist auch eine spirtliche Disziplin. Das Endziel ist, mit dem Göttlichen ständig vereint zu sein, nicht nur in der Meditation, sondern in allen Umständen des tätigen Lebens. Es gibt welche, die beim Meditieren in einen Zustand treten, der ihnen sehr bedeutend und köstlich erscheint. Darin sitzen sie, mit sich selbst zufrieden, und vergessen die Welt; werden sie aber gestört, so kommen sie wütend und aufgeregt heraus, weil ihre Meditation unterbrochen worden ist. Das ist gewiss kein Zeichen von spirtlichem Fortschritt. Manche andere, die ein tätiges Leben führen, scheinen ihre Meditation zu bestimmter Stunde für eine Pflicht zu halten, die sie dem Göttlichen schulden, sie sind wie die Leute, die einmal wöchentlich zur Kirche gehen, und meinen, so hätten sie Gott gegeben, was ihm gebührt. Wenn ihr euch anstrengen müsst, um in Meditation zu treten, seid ihr noch sehr weit davon entfernt, ein spirtliches Leben führen zu können. Bedarf es hingegen einer Anstrengung aus ihr herauszukommen, dann kann eure Meditation anzeigen, dass ihr im spirtlichen Leben seid.
- 23- Es gibt Disziplinen wie den Hatha-Joga und den Radscha-Joga, die man üben kann, ohne mit dem spirtlichen Leben irgend etwas gemein zu haben; der erstere führt vor allem zu Körperbeherrschung, der letztere zur Kontrolle des Geistes. In das spirtliche Leben eintreten aber heißt ins Göttliche eintauchen, wie man ins Meer taucht. Und das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang; denn nachdem man den Sprung gewagt hat, muss man lernen im Göttlichen zu leben. Wie man das macht? Ihr müsst, einfach drauflosspringen, ohne zu denken, ‘‘wohin falle ich? was wird mir geschehen?" Das Zaudern eures Geistes und eures Vitalen hindert euch daran, es zu tun. Lasst euch ganz einfach los. Wenn ihr ins Meer tauchen wollt und dauernd denkt: ''Ist hier auch nicht ein Fels und da ein Stein?", dann springt ihr nie.
Aber das Meer sieht man, und so kann man hineinspringen. Wie soll man in das spirtliche Leben springen?
Man muss natürlich einen Schimmer von der göttlichen Wirklichkeit erhascht haben, so wie man das Meer sehen und ein bisschen kennen muss, bevor man hineintaucht. Dieser Schimmer kommt im Allgemeinen durch ein Erwachen des seelischen Bewusstseins. Jedenfalls ist irgendeine Verwirklichung dazu nötig — ein starker geistiger oder vitaler, wenn nicht ein tiefer seelischer oder gar ein ganzheitlicher Kontakt. Die göttliche Gegenwart muss in oder um uns tief wahrgenommen worden sein; man muss den Hauch der göttlichen Welt gespürt haben. Und auch den entgegengesetzten Hauch muss man empfunden haben, den des gewöhnlichen Lebens, und zwar als beklemmenden Druck, der euch irgendwie dazu zwingt, aus seiner erstickenden Atmosphäre auszubrechen. Habt ihr das erlebt, so bleibt euch nur noch, ohne Einschränkung in der göttlichen Wirklichkeit Zuflucht zu suchen, unter ihrem Schutz und mit ihrer Hilfe zu leben, und nirgends sonst. Diese Überantwortung, die ihr vielleicht im Laufe eures gewöhnlichen Lebens teilweise geleistet habt, in einem oder mehreren Teilen eures Wesens, in gewissen Augenblicken oder bei bestimmten Gelegenheiten, müsst ihr vollständig und endgültig leisten. Das ist der Sprung, den ihr wagen müsst; und solange ihr das nicht tut,
- 24- könnt ihr jahrelang Joga praktizieren und dennoch nichts vom spirtlichen Leben wissen. Macht diesen Sprung ganz und gar und ohne Vorbehalt, und ihr werdet von der Verwirrung der äußeren Welt befreit, euch wird die wirkliche Erfahrung des spirtlichen Lebens zuteil.
- 25-
Es ist gesagt worden, man müsse, um im Joga voranzukommen, dem Göttlichen alles darbringen, bis zur kleinsten Kleinigkeit, die man im Leben hat oder tut. Was bedeutet das genau?
Joga heißt Einung mit dem Göttlichen, und die Einung geschieht durch Darbringung; sie gründet sich auf die Darbringung eures Wesens an das Göttliche. Zu Beginn bringt ihr dieses Opfer in allgemeiner Weise, gleichsam ein für allemal; ihr sagt: ''Ich bin ein Diener des Göttlichen; mein Leben ist ganz dem Göttlichen gegeben; all meine Bemühungen zielen auf die Verwirklichung des göttlichen Lebens." Das ist aber nur der erste Schritt, denn er genügt nicht. Wenn eure Entscheidung feststeht, wenn ihr beschlossen habt, dass euer gesamtes Leben dem Göttlichen geweiht sein soll, dann bleibt noch, euch in jedem Augenblick daran zu erinnern und es in allen Einzelheiten eures Daseins auszuführen. Bei jedem Schritt müsst ihr spüren, dass ihr dem Göttlichen gehört; es muss euch zur ständigen Erfahrung werden, dass in allem, was ihr denkt und tut, das göttliche Bewusstsein durch euch wirkt. Künftig habt ihr nichts mehr, was ihr euer eigen nennen könnt; ihr fühlt, dass alle Dinge vom Göttlichen kommen und dass ihr sie ihrem Ursprung zurückgeben müsst. Seid ihr imstande, das zu verstehen und zu erleben, dann hört auch eine Geringfügigkeit, um die ihr euch vorher kaum gekümmert habt, auf, nebensächlich und belanglos zu sein; sie wird voller Sinn und eröffnet euch einen weiten Horizont der Beobachtung und Selbsterforschung. Folgendermaßen müsst ihr es anfangen, um eure allgemeine Hingabe umzusetzen in eine, die sich in allen Einzelheiten bewährt. Lebt dauernd in der Gegenwart des Göttlichen; lebt in dem Gefühl, dass es diese Gegenwart ist, die euch bewegt und in euch alles tut. Bringt all eure Regungen ihr dar, nicht nur alle geistigen Tätigkeiten, jeden Gedanken, jede Empfindung, sondern auch die gewöhnlichsten und äußerlichsten, wie zum Beispiel Essen; wenn ihr esst, müsst ihr fühlen, dass das Göttliche in euch isst. Wenn ihr so alle Regungen in das Eine Leben zu sammeln vermögt, dann
- 26- nimmt in euch Einheit den Platz der Trennung ein. Ihr habt den Zustand hinter euch, in dem ein Teil eurer Natur dem Göttlichen gegeben ist, während der Rest am Gewohnten festhält und sich weiter mit dem Gewöhnlichen abgibt; euer gesamtes Leben hat eine einzige Richtung eingeschlagen; eine vollständige Umwandlung vollzieht sich allmählich in euch. Im ganzheitlichen Joga muss das ganze Leben bis in die kleinste Einzelheit verwandelt, vergöttlicht werden. Bei diesem Unternehmen gibt es nichts, was unbedeutend oder gleichgültig wäre. Ihr könnt nicht sagen: ''Wenn ich meditiere, wenn ich Philosophisches lese oder diesen Gesprächen lausche, befinde ich mich in einem Zustand der Sehnsucht nach dem Licht und der Empfänglichkeit dafür; doch wenn ich herauskomme, um spazieren zu gehen oder Freunde zu besuchen, dann darf ich das alles vergessen." Wenn ihr diese Einstellung beibehaltet, werdet ihr euch nie umwandeln und nie die wirkliche Einung haben: ihr werdet immer geteilt bleiben und bestenfalls einen Abglanz des höheren Lebens erhaschen. Ihr könnt vielleicht während eurer Meditation gewisse Erfahrungen, gewisse Verwirklichungen im inneren Bewusstsein erlangen, aber euer Leib und euer Leben bleiben unverändert. Eine innere Erleuchtung, die den Leib und das äußere Leben nicht berücksichtigt, ist von keinem großen Nutzen, denn sie lässt die Welt so, wie sie ist. Das ist bisher immer wieder geschehen. Sogar jene, die eine sehr große und machtvolle Verwirklichung hatten, zogen sich aus der Welt zurück, um ungestört in innerer Ruhe und innerem Frieden zu leben; die Welt blieb sich selbst überlassen, und unangefochten behielten Elend, Dummheit, Tod und Unwissenheit ihre Herrschaft über die stoffliche Daseinsebene. Für die, die sich derart zurückziehen, mag es sehr angenehm sein, dem Sturm zu entrinnen, der Schwierigkeit den Rücken zu kehren und anderswo für sich selbst einen Zustand der Glückseligkeit zu finden. Das Leben und die Welt aber lassen sie unverändert, und ihr Leib ist unverbesserlicher denn je. Wenn sie in die Welt zurückkommen, sind sie da im allgemeinen noch schlimmer dran als gewöhnliche Leute, denn sie haben die Herrschaft über stoffliche Dinge verloren, und ihre Handlungsweise im Leben läuft Gefahr, verworren und machtlos der Willkür jeder beliebigen Kraft ausgeliefert zu sein.
- 27- Ein solches Ideal mag gut sein für solche, die es wünschen, aber unser Joga ist das nicht. Denn wir wollen die göttliche Eroberung dieser Welt und all ihrer Regungen, die Verwirklichung des Göttlichen hier auf der Erde. Wollen wir aber, dass das Göttliche hier herrscht, so müssen wir ihm alles geben, was wir haben, alles, was wir sind, alles, was wir tun. Es ist nicht damit getan, gewisse Dinge für belanglos zu halten und zu meinen, das äußere Leben mit seinen Notwendigkeiten habe nicht teil am Göttlichen Leben. Wenn wir so dächten, würden wir uns nicht bewegen, alles bliebe immer beim Alten, es gäbe keine Eroberung der stofflichen Welt, und nichts Dauerhaftes könnte getan werden.
Kommen solche, die sehr fortgeschritten sind, auf die physische Ebene zurück?
Ja. Wenn in ihnen der Wille ist, diese Welt zu ändern, dann kommen sie um so sicherer zurück, je weiter sie fortgeschritten sind. Sogar jene, die ihr entfliehen wollen, werden vielleicht finden, wenn sie auf der andern Seite ankommen, dass sie am Ende nicht viel erreicht haben mit ihrer Flucht.
Erinnern sich viele, dass sie auf die andere Seite gegangen und wieder zurückgekommen sind?
Man erinnert sich, wenn man einen gewissen Bewusstseinszustand erlangt hat. Es ist nicht sehr schwierig, diesen teilweise zu berühren, für einen kurzen Augenblick; in der Meditation, im Traum, in einer Schauung kann man spüren, dass man in einem früheren Leben schon einmal Ähnliches erlebt, diese oder jene Wahrheit erfahren hat. Doch ist dies keine vollständige Verwirklichung; um die zu bekommen, muss man innerlich das immerwährende Bewusstsein erlangt haben, das immer gewesen ist und immer sein wird und das all unser vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Dasein verbindet.
Warum vergessen wir manchmal das Göttliche oder verlieren den Kontakt mit ihm, wenn wir mit intellektuellen Dingen beschäftigt sind?
- 28- Weil euer Bewusstsein noch geteilt ist. Das Göttliche wohnt noch nicht in eurem Geist; ihr seid noch nicht völlig dem göttlichen Leben geweiht. Sonst könntet ihr euch mit solchen Dingen so viel beschäftigen, wie ihr wollt, ohne dass eure Wahrnehmung des Göttlichen, dass euch hilft und stützt, beeinträchtigt würde. Bei all euren Betätigungen, intellektuellen und anderen, sollte es eurer Wahlspruch sein: ''Sich erinnern und darbringen." Was immer ihr unternehmt, tut es als Darbringung ans Göttliche. Das ist eine ausgezeichnete Disziplin für euch und wird euch von vielen dummen und unnützen Dingen abhalten.
Oft gelingt das zu Beginn einer Tätigkeit; in dem Maße aber, wie man sich darein vertieft, vergisst man. Was soll man tun, damit man sich erinnert?
Der zu erstrebende Zustand, die wirkliche Errungenschaft des Joga, die endgültige Vollendung und Erfüllung, auf die alles übrige nur vorbereitet, ist ein Bewusstsein, dem es unmöglich ist, irgend etwas ohne das Göttliche zu tun; denn ohne dieses verschwindet die eigentliche Ursache eures Tuns; Wissen, Macht, alles ist weg. Doch solange ihr die Kräfte, die ihr benutzt, für die euren haltet, vermisst ihr die göttliche Unterstützung nicht. Am Anfang des Joga neigt man dazu, das Göttliche oft zu vergessen. Doch beständige Sehnsucht stärkt das Erinnern und mindert das Vergessen. Nicht mit strenger Disziplin oder aus Pflicht sollte diese Sehnsucht aufrechterhalten werden, sondern durch eine Regung voller Liebe und Freude. So wird sehr bald ein Zustand erreicht, wo man sich einsam, traurig und elend fühlt, wenn man nicht in jedem Augenblick und bei allem, was man tut, der Gegenwart des Göttlichen bewusst ist. Wann immer ihr bemerkt, dass ihr etwas tun könnt, ohne die Gegenwart des Göttlichen zu empfinden und es euch dabei sehr wohl ist, dann müsst ihr einsehen, dass ihr in jenem Teil eures Wesens nicht hingegeben seid. Auf diese Weise lebt der gewöhnliche Mensch, der keineswegs das Gefühl hat, das Göttliche zu benötigen; beim Sucher nach dem göttlichen Leben aber kann das nicht so sein. Und habt ihr die völlige Einheit mit dem Göttlichen
- 29- verwirklicht, und zöge es sich dann auch nur für eine Sekunde zurück, so würdet ihr ganz einfach tot umfallen; denn das Göttliche ist das Leben eures Lebens geworden, euer gesamtes Sein, euer einziger und vollständiger Unterhalt. Ist das Göttliche nicht da, so bleibt nichts.
Ist es für einen Sadhak auf den Anfangsstufen des Joga gut, gewöhnliche Bücher zu lesen?
Ihr könnt heilige Bücher lesen und dennoch dem Göttlichen sehr fern stehen, und ihr könnt die dümmsten sogenannt literarischen Erzeugnisse lesen und dabei mit dem Göttlichen in Fühlung sein. Es ist nicht möglich, sich von den Regungen des umgewandelten Bewusstseins eine Vorstellung zu machen, bevor man die Umwandlung gekostet hat. Es gibt einen Bewusstseinszustand der Einheit mit dem Göttlichen, in dem man alles genießen kann, was man liest, auch was man beobachtet, sogar das banalste Buch oder die uninteressantesten Dinge. Man kann erbärmliche Musik hören — solche, vor der man gemeinhin davonlaufen möchte — und dennoch Gefallen daran finden, zwar nicht an der äußeren Form, aber an dem, was dahinter ist. Man verliert nicht die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Musik, sondern steigt sowohl über die eine wie die andere hinaus, um das zu erreichen, was sie ausdrückt. Denn es gibt nichts auf dieser Welt, was nicht im Göttlichen seine letzte Stütze und Wahrheit hätte. Und wenn ihr nicht bei der physischen, moralischen oder ästhetischen Erscheinung haltmacht, sondern darüber hinausgeht und mit dem Spirt in Beziehung tretet, mit der göttlichen Seele in den Dingen, dann könnt ihr sogar durch das, was dies gewöhnliche Empfinden verletzt und ihm hässlich, armselig, schmerzhaft oder misstönend erscheint, zur Schönheit und Glückseligkeit gelangen.
Ließe sich als Rechtfertigung der Vergangenheit von jemandem sagen, dass alles, was in seinem Leben geschehen ist, eben geschehen musste?
Offenbar hatte zu geschehen, was geschehen ist; es hätte nicht sein
- 30- können, wenn es nicht hätte sein sollen. Sogar die Fehler, die wir begangen haben und die Missgeschicke, die uns zugestoßen sind, hatten zu sein; denn in ihnen war irgendetwas für unser Leben Nötiges, Nützliches. Tatsächlich aber können und sollen solche Dinge nicht mit dem Verstand erklärt werden. Denn alles, was geschieht, ist notwendig, nicht aus irgendwelchen verstandesmäßigen Gründen, sondern um uns über alles hinauszuführen, was der Verstand sich vorstellen kann. Bedarf es denn überhaupt einer Erklärung? Das ganze Weltall erklärt alles in jedem Augenblick, und dies oder jenes geschieht, weil das Weltall in seiner Gesamtheit ist, was es ist. Das bedeutet nicht, dass wir in blindem Erdulden an unerbittliche Naturgesetze gebunden sind. Ihr könnt die Vergangenheit als Tatsache hinnehmen und ihren Nutzen erkennen, euch aber der gewonnenen Erfahrung bedienen, um in euch das bewusste Vermögen aufzubauen, mit dem sich eure Gegenwart und eure Zukunft lenken und gestalten lässt.
Ist auch der Zeitpunkt von Ereignissen im großen Plan des Göttlichen festgelegt?
Das kommt auf die Ebene an, von der man spricht und in der man sieht. Es gibt eine Ebene göttlichen Bewusstseins, wo alles unbedingt bekannt ist und wo der Plan der Dinge in seiner Gesamtheit vorausgesehen und vorherbestimmt ist. Diese Sichtweise eignet den obersten Gipfeln des Übergeistes, es ist die Schau des Höchsten. Haben wir aber dies Bewusstsein nicht, so hat es keinen Sinn, uns in Begriffen auszudrücken, die für jene Ebene gelten, doch unserer Art zu sehen und zu verstehen nicht entsprechen. Denn auf einer tieferen Bewusstseinsstufe ist nichts im Voraus festgelegt und verwirklicht, alles ist im Entstehen begriffen. Hier gibt es keine vorherbestimmten Tatsachen, sondern nur das Spiel von Möglichkeiten; dem Zusammenstoß dieser Möglichkeiten entspringt, was geschehen muss. Auf dieser Ebene können wir wählen und auslösen; wir können eine Möglichkeit ausschlagen und eine andere annehmen, einem Weg folgen und von einem anderen uns abkehren. Und das können wir, auch wenn das tatsächliche Geschehen auf einer höheren Ebene vorhergesehen und prädestiniert war.
- 31- Das höchste Bewusstsein weiß alles im Voraus, weil alles in seiner Ewigkeit besteht. Aber um seines Spieles willen und um auf der physischen Ebene auszuführen, was in seinem höchsten Selbst angeordnet ist, bewegt es sich hier auf Erden, als kennte es die ganze Geschichte nicht; es webt wie mit einem neuen, noch unversuchten Faden. Durch dieses scheinbare Vergessen seines eigenen Vorherwissens gibt das höchste Bewusstsein dem Einzelwesen im tätigen Leben der Welt das Gefühl von Freiheit, Unabhängigkeit und Initiative. Dieser Dinge bedient es sich als seiner Mittel und Verfahren, durch welche die anderswo vorhergesehenen und festgesetzten Bewegungen und Umstände hienieden verwirklicht werden. Am Beispiel des Schauspielers wird euch dies verständlich. Er kennt seine ganze Rolle: im Gedächtnis hat er die gesamte Handlung des Stücks. Doch wenn er auf der Bühne steht, darf er sich das nicht anmerken lassen; er muss empfinden und spielen, als erlebte er das alles zum ersten Mal, als wäre es eine völlig neue Welt mit all ihren Zufällen und Umständen und Überraschungen, die sich vor seinen Augen entfaltet.
Gibt es also keine wirkliche Freiheit? Ist alles, auch unsere Freiheit, ganz und gar festgelegt? Wäre denn Fatalismus die höchste Weisheit?
Freiheit und Schicksal, freier Wille und Vorherbestimmung sind Wahrheiten, die verschiedenen Bewusstseinszuständen angehören. Doch geistige Unwissenheit bringt beide auf dieselbe Ebene und stellt die eine der anderen entgegen. Bewusstsein ist nicht simple, gleichförmige Wirklichkeit, sondern vielfältig: es ist keine glatte Fläche, sondern hat viele Dimensionen. Oben auf der Treppe ist der Höchste, unten die Materie, und dazwischen befindet sich eine unendliche Abstufung von Bewusstseinsebenen. Im Bereich der Materie und auf der Stufe des gewöhnlichen Bewusstseins seid ihr an Händen und Füßen gefesselt. Ihr seid dem Getriebe der Natur ausgeliefert, an die Kette des Karma gebunden, und in jener Kette ist alles, was geschieht, unerbittlich die Folge des vorher Getanen. Zwar gibt es eine eingebildete Bewegungsfreiheit,
- 32- doch in Wirklichkeit wiederholt ihr nur, was andere tun, ihr gebt bloß die weltumfassenden Regungen der Natur wieder, dreht euch ohnmächtig mit auf dem erdrückenden Rad ihrer kosmischen Maschine. Das braucht aber nicht so zu sein. Ihr könnt euren Platz wechseln, wenn ihr wollt; statt unten zu bleiben, von ihrer Mechanei erdrückt oder wie eine Marionette bewegt, könnt ihr höhersteigen und alles von oben betrachten; und indem ihr euer Bewusstsein wandelt, könnt ihr auch einen Hebel zu fassen kriegen, um auf scheinbar unausweichliche Umstände einzuwirken und festgelegte Bedingungen zu verändern. Seid ihr einmal aus dem Wirbel heraus und steht hoch darüber, dann werdet ihr inne, dass ihr frei seid, frei von allem Zwang; nicht nur seid ihr kein passives Gerät mehr, sondern ihr werdet eine aktive, wirksame Macht; nicht nur seid ihr nicht mehr an die Folgen eures Tuns gebunden, sondern ihr könnt diese Folgen sogar ändern. Habt ihr einmal das Spiel der Kräfte überblickt, erhebt ihr euch einmal bis auf die Bewusstseinsebene, wo sich die Ursprünge dieser Kräfte befinden, und vereint ihr euch mit diesen dynamischen Quellen, dann gehört ihr nicht mehr zu dem, was bewegt wird, sondern zu dem, was bewegt. Das ist ja gerade das Ziel des Joga: aus dem Kreislauf des Karma heraus in die göttliche Bewegung einzutreten. Durch Joga entwächst man der mechanischen Runde der Natur, in der man ein unwissender Sklave ist, ein armseliges und unvermögendes Gerät, und steigt auf eine andere Ebene, wo man ein bewusster Teilnehmer und dynamischer Mitarbeiter an der Errichtung eines höheren Geschicks wird. Dieser Bewusstseinsvorgang vollzieht sich in doppelter Weise. Zunächst kommt ein Aufstieg; man hebt sich über das materielle Bewusstsein hinaus, höheren Bereichen zu. Doch diesem Aufstieg des Unteren zum Oberen antwortet ein Herabkommen des Oberen in das Untere. Wenn man über die Erde hinaussteigt, bewirkt man auch, dass etwas zu ihr herabsteigt von dem, was darüber ist, ein Licht, eine Kraft, die auf die Wandlung ihrer alten Natur hinwirkt. Diese Dinge, die in uns geschieden, zusammenhanglos und unvereinbar waren — Höheres und Niederes, innere und äußere Schichten unseres Wesens und
- 33- Bewusstseins —, treffen einander, fügen sich allmählich zusammen und verschmelzen schließlich zu einer einzigen Wahrheit und Harmonie. Auf diese Weise geschehen auch die sogenannten Wunder. Die Welt besteht aus unzähligen Bewusstseinsebenen, und jede hat ihre besonderen Gesetze: die der einen Ebene gelten auf einer anderen nicht; ein Wunder ist nichts anderes als eine jähe Herabkunft, ein Einbruch eines anderen Bewusstseins und seiner Kräfte, meistens vitaler, in die stoffliche Ebene. Der Mechanismus einer höheren Ebene wird in den stofflichen Mechanismus hineingestoßen. Es ist, als durchdringe plötzlich ein Blitz das Gewölk unsres gewöhnlichen Bewusstseins und brächte andere Kräfte, andere Bewegungen, andere Verkettungen mit sich. Das Ergebnis nennen wir ein Wunder, weil wir eine plötzliche Veränderung, einen jähen Umsturz der Naturgesetze unsres gewohnten Bereichs feststellen, ohne deren Ursache und Ablauf zu erkennen; denn der Ursprung des Wunders befindet sich auf einer anderen Ebene. Solche Einbrüche aus jenseitigen Welten in unsere stoffliche sind nicht selten; das kommt sogar sehr oft vor, und wenn wir Augen haben und zu beobachten wissen, können wir eine Fülle von Wundern erblicken. Besonders regelmäßig ereignen sie sich im Leben jener, die bestrebt sind, höhere Sphären in unsere irdische herabzubringen.
Hat die Schöpfung ein bestimmtes Ziel? Entwickelt sie sich auf einen Endpunkt?
Nein, das Universum ist eine sich unaufhörlich entfaltende Bewegung. Es gibt nichts, was man als Endziel betrachten könnte. Doch um der Erfordernisse des Handelns willen müssen wir die an sich endlose Bewegung unterteilen und uns dies oder jenes als Ziel setzen, denn beim Handeln müssen wir uns auf irgend etwas ausrichten können. Um ein Bild zu malen, haben wir einen bestimmten Kompositionsplan nötig; Grenzen sind zu setzen und alles muss in einen entsprechenden Rahmen passen; doch sind die Grenzen illusorisch, der Rahmen nur eine Konvention. Das Bild erstreckt sich immer weiter, über jeden bestimmten Rahmen hinaus, und jeder Teil könnte seinerseits wieder in eine endlose
- 34- Reihe von Rahmen gefasst werden. Wir sagen zwar, dies oder das sei unser Ziel, aber wir wissen, dass es nur der Anfang eines anderen Ziels ist, das wiederum zu einem anderen führt, und so fort: die Reihe entwickelt sich immer weiter und hört nie auf.
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