Die WORTE DER MUTTER sind Auszüge aus Briefen oder kurze Leitsprüche an Jünger. Sie wurden zwischen 1930 und 1938 verfasst.

Die GESPRÄCHE 1930-31 wurden von der Mutter auf Englisch geführt, danach von einem der Zuhörer aus dem Gedächtnis festgehalten und von der Mutter ins Französische übertragen.

 

           

Die Mutter


 

WORTE  DER  MUTTER

 

 

I

 

Friede und Gleichmut der Seele

 

In einem ruhigen, starken und dauerhaften Frieden werden die wahren Siege errungen.

Ruhe, Ruhe, eine stille und gesammelte Kraft, so ruhig, dass nichts sie erschüttern kann: dies ist die unerlässliche Grundlage für die ganzheitliche Verwirklichung.

Im Frieden werden Wissen und Macht erst richtig wirksam.

Im inneren Frieden und Schweigen werdet ihr der dauernden Gegenwart immer mehr bewusst.

In der Ruhe werdet ihr des Göttlichen Kraft, Hilfe und Schutz spüren, die immer bei euch sind.

Möge der weite Friede des Göttlichen euer ganzes Wesen durchdringen und Ursprung all eurer Regungen sein.

Vertiefe die innere Gelassenheit, sie muss immer da sein, sogar mitten in der vollsten Tätigkeit, und so fest, dass nichts sie zum Wanken bringen kann: dann wirst du ein vollkommenes Werkzeug für die Offenbarung.

Achte sehr darauf, stets ruhig und friedvoll zu bleiben, und lass in deinem Wesen den Gleichmut der Seele sich begründen. Erlaube deinem Geist nicht, zu rege zu sein und in einem Wirbel zu leben;  ziehe keine voreiligen Schlüsse von einem oberflächlichen Gesichtspunkt aus;  nimm dir stets Zeit, sammle dich und entscheide dich nur in der Ruhe.

Das Wahrheitsbewusstsein muss das gesamte Wesen durchdringen, alle Regungen beherrschen und den aufgeregten physischen Geist beruhigen. Das sind die Vorbedingungen für die Offenbarung.

 

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Die in der Meditation erlangte Ruhe des Geistes ist in Wahrheit von kurzer Dauer, denn sobald man aus der Meditation herauskommt, verlässt einen auch die Ruhe des Geistes. Die wirkliche und dauerhafte Ruhe, im Lebentlichen und Physischen so gut wie im Geist, entstammt einer völligen Weihung an das Göttliche;  denn wenn man nichts mehr, nicht einmal sich selbst, sein eigen nennen kann, wenn alles, einschließlich des Körpers, der Empfindungen, Gefühle und Gedanken, dem Göttlichen gehört, dann übernimmt das Göttliche die ganze Verantwortung für alles, und man braucht sich um nichts mehr Sorgen zu machen.

Nur wenn wir unbekümmert sind, können wir immer das Richtige tun, im richtigen Augenblick und auf die richtige Weise.

Friede ist wahrhaftig unerlässlich, ohne ihn wird die geringste Sache eine große Affäre.

Möge in dir der Friede sich immer beständiger und ganzheitlicher offenbaren.

 

 

II

 

Aufrichtigkeit und Glaube

 

Aufrichtigkeit ist der Schlüssel zu den göttlichen Toren.

Jedem wird seine Gelegenheit gegeben, und die Hilfe ist da für alle;  aber der Gewinn eines jeden entspricht dem Maß seiner Aufrichtigkeit.

Jeder aufrichtige Anruf wird sicher erhört und bekommt eine Antwort.

Alles hängt von der Haltung eines jeden ab und von der Aufrichtigkeit seines Strebens.

Die größten Feinde der vollkommenen Aufrichtigkeit sind die

 

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geistigen, lebentlichen und physischen Vorlieben sowie die Vorurteile. Das sind die Hindernisse, die es zu übersteigen gilt.

Den Aufrichtigen kann ich helfen und sie leicht dem Göttlichen zuwenden. Ist da aber Unaufrichtigkeit, dann vermag ich nicht viel. Wie ich euch schon gesagt habe, wir müssen geduldig sein und abwarten, dass die Lage sich bessert. Doch sehe ich wahrhaftig nicht ein, warum ihr euch beunruhigen müsstet und wie eure Unruhe die Dinge besser machen könnte. Ihr wisst aus Erfahrung, dass es nur einen einzigen Weg aus der Verwirrung und der Dunkelheit gibt:  ganz ruhig und friedvoll bleiben, sehr fest im seelischen Gleichmut, und das Gewitter sich verziehen lassen. Erhebt euch über all diese Schwierigkeiten und kleinlichen Streitereien und erwacht von neuem zum Licht und zur Kraft meiner Liebe, die euch nicht verlässt.

In jedem Augenblick unser Bestes tun und das Ergebnis dem Entscheid des Göttlichen überlassen, das ist der sicherste Weg zum Frieden, zum Glück, zur Kraft, zum Fortschritt und schließlich zur Vollkommenheit.

Wenn Unglaube sich überall breit macht, gerade dann ist es an der Zeit, wahrhaft gläubig zu sein und fest und unerschütterlich dem Sturm zu trotzen.

Es ist gut, einen unbeirrbaren Glauben zu haben, das macht den Weg leichter und kürzer.

Man muss völliges Vertrauen in den Sieg des Göttlichen haben;  und dieser allgemeine Sieg wird den persönlichen Sieg aller treu und vertrauensvoll Gebliebenen einschließen.

 

 

III

 

Geduld und Demut

 

Demut und Aufrichtigkeit sind unsre sichersten Hüter. Ohne sie birgt jeder Schritt eine Gefahr;  mit ihnen aber ist der Sieg gewiss.

 

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Wahre und aufrichtige Demut ist unser Schutz;  sie ist der sicherste Weg zur unerlässlichen Auflösung des Ego.

Wenn der Geist unter allen Umständen ruhig bleibt, ganz gleich was geschieht, dann nimmt die Geduld leichter zu.

Seine Natur überwindet man nicht an einem Tag. Aber mit Geduld und beharrlichem Willen ist der Sieg gewiss.

Die Gewissheit des Sieges verleiht unendliche Geduld mit dem Höchstmaß an Energie.

Bleibe ruhig. Wir müssen nur geduldig arbeiten, ohne uns von irgendetwas stören zu lassen, und dabei unsern Glauben an den unausweichlichen Sieg unversehrt bewahren.

Lasst das innere Feuer unablässig in euch brennen, und wartet ruhig auf das sichere Ergebnis.

Der wahre Agni brennt immer in einem inneren Frieden, er ist das Feuer eines allsiegreichen Willens.

Lasst ihn in vollkommenem Gleichmut der Seele in euch wachsen.

 

 

IV

 

Liebe

 

Nur wer liebt, kann Liebe erkennen. Die sich nicht in aufrichtiger Liebe zu geben vermögen, erkennen die Liebe nirgends; und je göttlicher, das heißt je uneigennütziger die Liebe ist, desto weniger können sie sie erkennen.

Mit sich selbst beschäftigt zu sein bewirkt Verfall und Tod. Nur die Ausrichtung auf das Göttliche bringt Leben, Wachstum und die Verwirklichung.

 

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Einzig Liebe kann die Geheimnisse des göttlichen Handelns begreifen und erlangen. Der Geist, insbesondere der physische Geist, ist unfähig, richtig zu sehen, und dennoch will er stets urteilen... Nur wahre und aufrichtige Demut im Geist, die der Seele erlaubt das Wesen zu regieren, kann die Menschen aus der Unwissenheit und dem Dunkel retten.

Um das Eingreifen der göttlichen Gnade müssen wir beten;  denn würde sich die Gerechtigkeit offenbaren, so gäbe es nur sehr wenige, die vor ihr bestehen könnten.

Es gibt ein tiefes und wahres Bewusstsein, wo sich alle in Liebe und Harmonie begegnen können.

Vertrautheit mit dem Göttlichen wächst immer mit dem Zunehmen des Bewusstseins, des seelischen Gleichmuts und der Liebe.

Bewahrt stets diese Wahrnehmung der ständigen Gegenwart meiner Liebe, und alles wird gut sein.

Die Mitte des menschlichen Wesens ist die Seele, das Heim des innewohnenden Göttlichen. „Eingänzung" bedeutet die Organisation und Harmonisierung aller Wesensteile — des geistigen, lebentlichen und physischen — um diese Mitte, damit alle Tätigkeiten des Wesens rechter Ausdruck des Willens der göttlichen Gegenwart werden.

Eifersucht rührt von einer Enge des Geistes und einer Schwäche des Herzens her. Es ist sehr schade, dass so viele Menschen Opfer dieser Krankheit sind.

Lebentliche Beziehungen sind immer gefährlich.

Die einzige Lösung ist eine vollständige und unbedingte Weihung des Lebentlichen an das Göttliche.

 

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V

 

Ihr und die anderen

 

Gewiss, wir müssen stets Frieden und Harmonie erstreben und dafür arbeiten, soviel wir nur können;  der geeignetste Bereich für diese Arbeit aber liegt immer in uns selbst.

Kümmert euch nicht um die Reaktionen der Leute, wie unliebsam sie auch sein mögen:  überall und in allen ist das Lebentliche voll Unreinheiten und das Physische voll Unbewusstheit. Diese beiden Mängel gilt es zu beheben, auch wenn es viel Zeit beansprucht, und wir brauchen nur geduldig und tapfer daran zu arbeiten.

Sich durch das, was andere tun, denken oder sagen, verletzen zu lassen, ist immer ein Zeichen von Schwäche und ein Beweis, dass nicht das gesamte Wesen ausschließlich dem Göttlichen zugewendet ist, nicht nur unter dem göttlichen Einfluss steht. Statt also eine Atmosphäre der Liebe, der Duldsamkeit, des Verstehens und der Geduld mitzubringen, erwidert das eigene Ego, indem es sich mit Härte und voller Groll auf das Ego des anderen stürzt und damit die Unstimmigkeit verschlimmert. Das Ego versteht nie, dass das Göttliche in verschiedenen Menschen verschieden handelt, und dass aus seinem Blickwinkel etwas beurteilen zu wollen ein schwerer Irrtum ist, der die Verwirrung nur noch größer macht. Was wir mit Leidenschaft und Unduldsamkeit tun, kann gar nicht göttlich sein, denn das Göttliche arbeitet nur im Frieden und in der Harmonie.

Quäle dich nicht und sei nicht ungeduldig;  alle Zwietracht wird verschwinden;  dies muss aber auf der wahren Grundlage eines hellen Bewusstseins geschehen, das so gefestigt ist, dass es dem Spiel des Ego keinen Raum mehr lässt.

Erst wenn die Leute ihr Bewusstsein wahrhaft ändern wollen, lassen sich auch ihre Handlungen ändern.

 

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Ich weiß schon, dass die Leute anspruchsvoll und unvernünftig sind. Aber was können wir von ihnen anderes erwarten, solange ihr Bewusstsein sich nicht ändert ?

Ist nicht in allen Menschen immer Falschheit der Wahrheit beigemischt ?

Ja, wir müssen den Sitz unsres Bewusstseins im höheren Wesen halten und von da aus alles besorgen, ohne den blinden und ichsüchtigen niederen Reaktionen und Regungen zu erlauben, unsre Arbeit zu verderben.

Vermöchte jeder völlig unabhängig von seinen Vorlieben und ohne aus allem eine persönliche Angelegenheit zu machen das Gute der Arbeit zu sehen, dann wären fast alle Schwierigkeiten behoben.

Könnten die Leute aufhören, von der Arbeit als von ihrer Arbeit zu sprechen, so wären viele Plagen beseitigt.

Ich möchte, dass Friede in deinen Kopf komme und auch die ruhige und geduldige Weisheit, die dich von überstürzten Urteilen abhalten wird.

Je unwissender jemand ist, desto leichter beurteilt er Dinge, die er nicht kennt und auch gar nicht kennen kann.

Ein sehr, sehr ruhiger Kopf ist unerlässlich, um klar zu sehen und zu verstehen und richtig zu handeln.

Wir müssen uns stets das große Ideal und das große Werk vor Augen halten, das wir zu vollbringen haben, damit wir kleinen Teilstücken nicht allzuviel Gewicht beilegen, diesen Lappalien, die unsre Aufmerksamkeit gar nicht verdienen:  mögen sie kommen und gehen wie Wolkenschleier am Himmel, die dem guten Wetter keinen Abbruch tun.

 

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Ja, all diese Streitereien sind eine traurige Angelegenheit; sie stören die Arbeit schrecklich und erschweren alles.

Schaut nicht auf die Dummheit anderer, schaut auf die eigene.

Habt gut acht, um euch herum immer die lebendige Gegenwart und den Schutz zu wahren, wenn ihr zu anderen redet, und redet so wenig als möglich.

 

 

VI

 

Schwierigkeiten und Hilfe

 

Schwierigkeiten rühren immer vom Widerstand eines oder mehrerer Teile des Wesens her, wenn sie sich der Kraft, dem Bewusstsein und dem Licht verweigern, die auf sie gerichtet sind, und sich gegen den göttlichen Einfluss auflehnen. Selten vermag sich jemand völlig dem göttlichen Willen zu unterwerfen, ohne der einen oder anderen dieser Schwierigkeiten zu begegnen. Aber das sichere Mittel, alle Hindernisse zu übersteigen, ist eine feste und ruhige Sehnsucht und eine ganz und gar aufrichtige Selbstbetrachtung.

Bestimmt kommen all diese Störungen von einem Widerstand in irgendeinem Teil, von etwas, das sich dem Werk der Umwandlung entgegenstellt.

Die Sadhana wäre für niemanden möglich ohne die Hilfe des Göttlichen. Aber die Hilfe ist immer da.

Die Gnade ist immer zu handeln bereit, doch müsst ihr sie lassen und ihrem Wirken nicht widerstehen. Eine einzige Bedingung gibt es:  Glaube. Fühlt ihr euch angegriffen, so ruft Sri Aurobindo und mich zu Hilfe. Wenn euer Anruf aufrichtig ist, das heißt, wenn ihr wahrhaft geheilt werden wollt, dann wird euer Anruf erhört und ihr werdet geheilt.

Es ist unsinnig, um Hilfe zu bitten und dabei kein Vertrauen zu haben;  dagegen wird mit Vernunft alles so einfach.

 

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Ich bin in der Tat überzeugt, dass keine Bedingung mehr nötig ist, sobald das Unbewusste bezwungen ist;  alles ist dann ein freier Beschluss der göttlichen Gnade.

Aufzustreben und um Hilfe zu rufen ist ganz unerlässlich.

Zwischen Rufen und Ziehen besteht ein großer Unterschied. Ihr dürft und sollt stets um Hilfe rufen;  die Antwort entspricht jeweils eurer Empfänglichkeit und eurem Fassungsvermögen. Sie zu sich zu ziehen ist eine ichhafte Regung, die Kräfte herabsteigen lassen kann, die in keinem Verhältnis zu euren Fähigkeiten stehen und euch folglich schaden.

Offen sein, das heißt die Kraft und den Einfluss empfangen und nutzen wollen, um einen Fortschritt zu machen, heißt das ständige Streben, mit dem göttlichen Bewusstsein in Fühlung zu bleiben, heißt der Glaube, dass die Kraft und das Bewusstsein immer bei euch, um euch und in euch sind und ihr sie nur zu empfangen braucht, ohne irgendetwas dazwischentreten zu lassen.

Es stimmt zwar, dass der göttliche Schutz stets um uns ist, aber er wirkt nur dann ganz, wenn wir unausweichlichen Gefahren zu begegnen haben;  wenn also plötzlich Gefahren auftreten, während wir für das Göttliche arbeiten, dann ist der Schutz am wirksamsten. Hingegen eine Arbeit zu unternehmen, die schließlich nicht unbedingt nötig und wohl auch nicht nützlich ist, dafür aber äußerst gefährlich, und dabei auf den göttlichen Schutz zu zählen, dass er uns vor allen möglichen Folgen bewahre, das kommt einer Herausforderung des Göttlichen gleich, und das Göttliche wird sie niemals annehmen.

Bleibt man völlig ruhig und furchtlos, dann kann nichts Ernstliches passieren.

Angst ist immer ein sehr schlechter Berater.

 

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Wird die Falschheit bezwingen sein, so werden alle Schwierigkeiten verschwinden.

Ein großes Unwissen ist es, was einen auf die Einflüsterungen der Kräfte der Dunkelheit und der Zerstörung hören lässt. Ein echtes Gefühl der Dankbarkeit für die unendliche Barmherzigkeit des Göttlichen würde uns vor solchen Gefahren retten.

Der Sieg ist gewiss, und in dieser Gewissheit können wir geduldig allen schlechten Einflüsterungen und feindlichen Angriffen die Stirn bieten.

Wir dürfen den gegnerischen Kräften nie die geringste Gelegenheit bieten, ihren schlechten Einfluss geltend zu machen. Sie nehmen die leichteste Unbewusstheit wahr.

Aufrichtige Selbsthingabe kann uns aus allen Gefahren und allen Schwierigkeiten retten.

Ja, mein Kind, es ist vollständig wahr, dass das Göttliche die einzige Zuflucht ist. Bei Ihm ist die unbedingte Sicherheit.

 

 

VII

 

Die Zukunft

 

Horoskope haben keine Bedeutung für solche, die den Joga machen;  denn der im Joga wirkende Einfluss ist viel stärker als jener der Sterne.

Die Offenbarung [Manifestation] wird alle Schwierigkeiten überwinden; denn unter Offenbarung verstehen wir den Sieg über alle Schwierigkeiten.

 

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GESPRÄCHE 1930-31

 

 

I

 

Schwierigkeiten im Joga

 

Die Natur eurer Schwierigkeit ist ein Hinweis auf die Natur des Sieges, den ihr erringen müsst, des Sieges, den ihr im Joga verkörpert. Hartnäckige Ichbezogenheit zeigt an, dass eure Haupterrungenschaft einst eine Verwirklichung der Allheitlichkeit sein wird. Ist Ichbezogenheit in euch, so habt ihr auch das Vermögen, gerade diese Schwierigkeit in ihr Gegenteil zu kehren und daraus einen Sieg der absoluten Weite zu machen.

Wenn ihr etwas verwirklichen sollt, dann liegt gerade dessen entgegengesetzte Eigenart in euch. Seht ihr euch einem Fehler, einer Schwierigkeit gegenüber, dann sagt ihr: „So bin ich also. Entsetzlich !" Aber ihr solltet den Sachverhalt richtig erkennen. Ihr müsstet euch sagen: „Meine Schwierigkeit zeigt mir klar, was ich schließlich darzustellen habe — ihr völliges Gegenteil, die Eigenschaft ihres anderen Pols zu erreichen, das ist mir aufgetragen."

Sogar im gewöhnlichen Leben finden wir manchmal solche Beispiele. Einer, der furchtbar schüchtern ist und überhaupt keinen Mut hat, erweist sich unter Umständen als fähig, am meisten auszuhalten.

Einen nach dem Göttlichen Strebenden weist die Schwierigkeit, die bei ihm am häufigsten anklopft, gerade auf die Pforte hin, durch die er auf seine ganz persönliche Weise zu Gott gelangen wird — das ist eben sein besonderer Weg zur göttlichen Verwirklichung.

Es ist auch eine Tatsache, dass jemand, der Hunderte von Schwierigkeiten hat, eine bedeutende Verwirklichung haben wird — unter der Bedingung natürlich, dass er Geduld und Ausdauer hat und dass er in sich Agni brennen lässt, die Flamme der Sehnsucht, die alle Fehler verzehrt.

Und denkt daran: Die göttliche Gnade entspricht im allgemeinen den Schwierigkeiten.

 

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II

 

Das gewöhnliche Leben und die wahre Seele

 

Das gewöhnliche Leben ist ein Kreislauf verschiedener Wünsche und Begierden. Solange ihr von ihnen in Anspruch genommen seid, kann es keinen bleibenden Fortschritt geben. Es muss ein Ausweg aus diesem Kreislauf gefunden werden. Nehmen wir zum Beispiel die allgemeinste Beschäftigung des täglichen Lebens:  Die Leute denken beständig daran, was und wann sie essen werden und ob es auch genug sei. Um diese Begierde zu überwinden, müsst ihr im Wesen eine solche Gelassenheit entwickeln, dass ihr dem Essen gegenüber völlig gleichmütig seid. Bekommt ihr etwas zu essen, so nehmt ihr es zu euch;  wenn nicht, so macht euch das nichts aus;  vor allem aber denkt ihr nicht dauernd daran. Ihr dürft auch nicht negativ darauf sinnen — sich damit beschäftigen, Mittel und Methoden der Enthaltsamkeit zu erfinden, wie es die Asketen tun, heißt von dem Essen beinah ebenso in Anspruch genommen sein, wie wenn man gierig davon träumt. Nehmt eine Haltung des Gleichmuts ein, das ist die Hauptsache. Entlasst die Vorstellung des Essens aus eurem Bewusstsein, messt ihm nicht die geringste Bedeutung bei.

Das alles wird ganz einfach, sobald ihr mit eurem seelischen Wesen in Fühlung kommt, der wahren Seele in euch. Denn dann spürt ihr sogleich, wie unwichtig diese Dinge sind und dass es nur auf das Göttliche ankommt. Im Seelischen weilen heißt, über alle Gier hinausgehoben sein. Da habt ihr kein Verlangen mehr, keine Sorge, kein fieberhartes Begehren. Und ihr spürt auch, dass alles, was geschieht, zu eurem Besten geschieht. Versteht mich recht, ich will nicht sagen, dass ihr immer alles für das Beste halten sollt. Solange ihr im gewöhnlichen Bewusstsein seid, ist nicht alles zum Besten. Ihr könnt euch auf völlig falsche Wege verirren, wenn ihr nicht im richtigen Bewusstseinszustand seid. Von da an aber, wo ihr im Seelischen gefestigt seid und euch dem Göttlichen überantwortet habt, geschieht alles zum Besten, denn alles, wie auch immer verkleidet, ist für euch eine bestimmte Antwort des Göttlichen.

Tatsächlich trägt die aufrichtige und spontane Selbsthingabe ihren Lohn unmittelbar in sich; sie bringt ein solches Glück, ein

 

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solches Vertrauen, eine solche Sicherheit wie nichts sonst. Doch solange die Hingebung nicht unbeirrt seelisch ist, gibt es manchmal noch Störungen und dunkle Zwischenzeiten. Nur das Seelische schreitet stetig vorwärts, steigt beständig höher. Alle anderen Entwicklungen sind unstet und oft unterbrochen.

Und ihr könnt nicht einmal ein wirkliches Individuum sein, solange das Seelische in euch nicht spürbar ist, denn das ist euer wahres Ich. Bevor ihr euer wahres Ich kennt, seid ihr ein öffentlicher Platz und kein Wesen. So viele einander widerstreitende Kräfte sind in euch am Werk ! Wollt ihr wirkliche Fortschritte machen, so müsst ihr euer eigenstes Wesen kennen, das mit dem Göttlichen dauernd geeint ist; erst dann wird die Umwandlung möglich. Alle anderen Teile eurer Natur sind unwissend;  der Geist zum Beispiel macht oft den Fehler, irgendeine glänzende Idee auch für eine lichtvolle zu halten. Er kann mit dem gleichen Nachdruck Argumente für und gegen das Göttliche vorbringen:   er hat durchaus keinen untrüglichen Sinn für die Wahrheit. Das Lebentliche lässt sich gemeinhin von jeglicher Machtentfaltung beeindrucken und ist geneigt, darin etwas Göttergleiches zu sehen. Einzig das Seelische hat die richtige Unterscheidungskraft: es ist sich der höchsten Gegenwart unmittelbar bewusst;  es hält das Göttliche und das Widergöttliche auseinander. Seid ihr, und sei es auch nur für einen Augenblick, damit in Fühlung getreten, so tragt ihr eine Überzeugung in euch, die nichts erschüttern kann.

Ihr fragt:  Wie können wir unser wahres Wesen erkennen ? Erbittet, ersehnt und erstrebt es, wollt es mehr als alles andere. Die meisten von euch hier sind von ihm beeinflusst;  aber der Einfluss genügt nicht, ihr solltet euch mit ihm eins fühlen. Jeder Drang nach Vollkommenheit kommt von ihm;  ihr arbeitet nicht wissentlich mit ihm zusammen, ihr seid nicht geeint mit seinem Licht. Denkt nicht, dass ich das Emotionale meine, wenn ich vom Seelischen spreche. Die Emotionen gehören zum höheren Lebentlichen, nicht zum rein Seelischen. Das Seelische ist eine stetige Flamme, die ohne zu flackern in euch brennt;  sie steigt gerade zum Göttlichen empor und bringt ein Gefühl von Kraft mit sich, das alle Widerstände bricht. Wenn ihr mit ihr geeint seid, spürt ihr die göttliche Wahrheit — und dann habt ihr unweigerlich den Eindruck, dass die ganze Welt auf dem Kopf spaziert, die Beine in der Luft !

 

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Ihr müsst lernen, das, was ihr euer Individuum nennt, eurer wahren, seelischen Individualität zur einen. Eure jetzige Individualität ist etwas sehr Vermischtes, eine Reihe von Veränderungen, die jedoch einen gewissen Zusammenhang bewahren, eine gewisse Ähnlichkeit oder Gleichheit der Schwingungen in all dem Fließenden. Sie ist fast wie ein Strom, der nie der gleiche ist und dennoch eine ihm eigene Art und Beständigkeit hat. Euer normales Ich ist einfach der Schatten eurer wahren Individualität, und erst wenn dies normale Einzelwesen, das zu verschiedenen Zeiten verschieden gelagert ist, sei es geistig, lebentlich oder physisch, mit dem Seelischen in Fühlung tritt und es als sein wirkliches Wesen empfindet, erst dann verwirklicht ihr eure wahre Individualität. Dann seid ihr in euch selbst geeint, nichts kann euch stören oder erschüttern, ihr macht regelmäßige und dauerhafte Fortschritte, und ihr steht hoch über so kleinlichen Regungen wie der Essbegierde.

 

 

III

 

Überantwortung, Selbsthingabe und Weihung

 

Überantwortung ist der Entschluss, dem Göttlichen die Verantwortung für euer Leben anzuvertrauen. Ohne diesen Entschluss ist nichts möglich;  wenn ihr euch nicht überantwortet, kommt der Joga überhaupt nicht infrage. Das Übrige ergibt sich dann ganz natürlich, denn der gesamte Vorgang des Joga beginnt mit der Überantwortung. Ihr könnt diese mit Hilfe des Wissens oder der Liebe leisten. Ihr mögt die starke Intuition haben, dass einzig das Göttliche die Wahrheit ist, und die klare Überzeugung, dass ihr ohne das Göttliche nichts vermögt. Oder ihr mögt das spontane Gefühl haben, dass dieser Weg der einzige ist, der zum Glück führt, einen starken seelischen Drang, ausschließlich dem Göttlichen anzugehören: „Ich gehöre nicht mir selbst", sagt ihr und übergebt die Verantwortung eures Wesens der Wahrheit. Sodann kommt die Selbsthingabe: „Hier bin ich, ein Geschöpf mit verschiedenen

 

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Eigenschaften, guten und schlechten, dunklen und hellen. Ich bringe mich Dir dar, so wie ich bin;  nimm mich an mit all meinen Höhen und Tiefen, meinen widerstrebenden Trieben und Neigungen;  mach aus mir, was Du willst."  Im Verlauf der Hingebung eurer selbst beginnt ihr euer Wesen um das herum zu einen, was den ersten Entschluss gefasst hat:  den zentralen seelischen Willen. Ihr könnt euch dem Göttlichen in einer spontanen Regung darbringen; aber es ist nicht möglich, euch ohne diese Einswerdung wirklich hinzugeben. Je mehr ihr geeint seid, desto mehr werdet ihr fähig, diese Selbsthingabe zu verwirklichen. Und wenn diese vollständig ist, folgt die Weihung; sie ist die Krönung des ganzen Vorgangs der Verwirklichung, die letzte Stufe des Anstiegs, nach der es keine Schwierigkeiten mehr gibt. Aber ihr dürft nicht vergessen, dass ihr nicht auf einmal ganzheitlich geweiht sein könnt. Denn oft verfallt ihr solch einer Täuschung. Ein oder zwei Tage lang fühlt ihr in euch eine große Inbrunst euch zu weihen, und das lässt euch hoffen, euer gesamtes Wesen werde automatisch nachfolgen. Wenn ihr aber auch nur im geringsten selbstzufrieden seid, haltet ihr euren Fortschritt auf. Denn euer Wesen ist voll von unzähligen widersprüchlichen Neigungen, sozusagen lauter verschiedenen Persönlichkeiten. Gibt sich eine von ihnen dem Göttlichen, so lehnen sich die anderen auf:  „Wir haben uns nicht gegeben", protestieren sie und fangen an zu schreien und ihre Unabhängigkeit und ihren eigenen Ausdruck zu verlangen. Dann heißt ihr sie ruhig sein und zeigt ihnen die Wahrheit. Geduldig müsst ihr im ganzen Wesen herumgehen, alle verborgenen Fehler und geheimen Winkel auskundschaften, all diesen anarchischen Elementen entgegentreten, die in euch den günstigen psychologischen Augenblick abwarten, um hochzukommen. Und wenn ihr die gesamte Runde durch eure geistige, lebentliche und physische Natur gemacht und das alles dazu gebracht habt, sich dem Göttlichen zu geben, wenn ihr so eine völlige, ganzheitliche Weihung erlangt habt, erst dann ist all euren Schwierigkeiten ein Ende gesetzt. Und dann wird euer Marsch auf die Umwandlung zu wirklich glorreich;  denn ihr schreitet nicht mehr von der Dunkelheit zum Wissen, sondern von Wissen zu Wissen, von Licht zu Licht, von Glück zu Glück.

 

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Die vollständige Weihung ist zweifellos keine leichte Sache, und sie könnte sehr wohl eine endlose Zeit beanspruchen, wenn ihr sie allein, aus eigenen Kräften, zu vollbringen hättet. Doch verhält es sich nicht ganz so, wenn die göttliche Gnade bei euch ist. Mit einer kleinen Hilfe dann und wann, einem kleinen Schubs in diese oder jene Richtung wird die Arbeit verhältnismäßig einfach. Natürlich hängt die Dauer von jedem Einzelnen ab, aber sie kann sich beträchtlich verkürzen, wenn euer Entschluss fest ist.

Entschlossenheit ist das eine Erforderliche — sie ist der Schlüssel, der alle Türen öffnet.

 

 

IV

 

Entsagung

 

Von allen Entsagungen ist es die schwerste, auf seine guten Gewohnheiten zu verzichten.

In den Büchern findet man vieles über Entsagung — da steht, man müsse auf Besitz verzichten, auf alles Anhängen, alles Begehren. Doch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ihr, solange ihr noch auf etwas verzichten müsst, noch gar nicht auf dem Weg seid. Denn solange ihr der Dinge, so wie sie sind, nicht völlig überdrüssig seid und noch eine Anstrengung machen müsst sie abzuweisen, seid ihr nicht bereit für die übergeistige Verwirklichung. Wenn die Ausprägungen des Obergeistes — die Welt, die er gebaut hat, und die bestehende Ordnung, die er unterstützt — euch immer noch befriedigt, könnt ihr nicht hoffen, an der neuen Verwirklichung teilzunehmen. Erst wenn ihr die jetzige Welt widerlich, unerträglich und unannehmbar findet, seid ihr reif für eine Bewusstseinswandlung. Darum halte ich nichts von der Idee der Entsagung. Wenn ihr auf etwas verzichtet, einer Sache entsagt, so heißt das, ihr müsst etwas aufgeben, was ihr schätzt, etwas zurückweisen, was euch wert scheint behalten zu werden. Ihr müsstet im Gegenteil die Empfindung haben, dass diese Welt hässlich, dumm, brutal und voll unerträglichen Leidens ist;  und wenn ihr so empfindet, dann schreit das ganze physische und

 

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materielle Bewusstsein, das nicht will, dass dem so sei und das daran arbeitet, dass dies sich ändere: „Ich will etwas anderes, etwas, das wahr und schön ist, voll Glückseligkeit, Wissen und Bewusstsein !" Hier schwimmt alles auf einem Meer von dunklem Unbewusstsein. Wollt ihr aber Gott mit all eurem Willen, all eurer Entschlossenheit, all eurer Sehnsucht und Eindringlichkeit, dann kommt Er bestimmt.

Doch geht es nicht bloß darum, die Welt zu verändern. Viele fordern einen Wechsel der Regierungsform, eine soziale Reform und philanthropische Werke und wähnen, auf diese Weise die Welt verbessern zu können. Wir aber wollen eine neue Welt, eine wahre Welt, den Ausdruck des Wahrheitsbewusstseins. Diese Welt wird sich verwirklichen, sie muss es — je eher desto besser.

Das soll aber nicht nur eine subjektive Wandlung sein. Das gesamte physische Leben muss umgewandelt werden. Die materielle Welt will nicht eine bloße Bewusstseinswandlung in uns;  sie sagt in der Tat: „Ihr zieht euch in eure Glückseligkeit zurück, ihr werdet lichtvoll und erlangt das göttliche Wissen;  aber mich ändert das nicht, ich bleibe immer in der Hölle, in der ich praktisch bin." Die wahre Bewusstseinswandlung verändert die physischen Bedingungen der Welt und macht aus ihr eine völlig neue Schöpfung.

 

 

V

 

Sehnsucht im Physischen nach der göttlichen Liebe

 

Hier ist eine Blume, die wir „Sehnsucht im Physischen nach der göttlichen Liebe" genannt haben. Unter dem „Physischen" verstehe ich das physische Bewusstsein, das allergewöhnlichste und am meisten nach außen gewandte Bewusstsein, das für die meisten Menschen normale Bewusstsein, jenes, das Dingen wie Komfort, gutem Essen, schönen Kleidern, glücklichen Beziehungen usw. so großen Wert beimisst, statt nach den höheren Dingen zu streben. Sehnsucht im Physischen nach der göttlichen Liebe heißt, dass nichts in ihm etwas anderes begehrt als zu spüren, wie es vom Göttlichen geliebt wird. Es begreift, dass all seine gewohnten

 

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Befriedigungen völlig ungenügend sind. Doch dabei kann es keinen Kompromiss geben. Will das Physische die göttliche Liebe, so muss es einzig das wollen und darf nicht sagen: „Ich bekomme die göttliche Liebe und behalte zugleich meine anderen Anhänglichkeiten, Bedürfnisse und Vergnügungen..."

Das seelische Zentrum ist der eigentliche Sitz der Sehnsucht;  von dort strahlt sie aus oder offenbart sich im einen oder anderen Teil des Wesens. Wenn ich von Sehnsucht im Physischen spreche, so meine ich, dass genau jenes Bewusstsein in euch, das nach materiellem Komfort und Wohlstand giert, von sich aus und ohne von den höheren Teilen eurer Natur dazu genötigt zu sein ausschließlich die göttliche Liebe begehren sollte. Im allgemeinen müsst ihr ihm das Licht mit Hilfe der höheren Teile eures Wesens zeigen, und zwar beharrlich;  sonst würde das Physische niemals lernen, und es müsste die gewohnte Runde der Natur durch die Zeitalter abwarten, ehe es von sich aus begreifen lernte. Tatsächlich ist diese Runde der Natur dazu da, ihm alle möglichen Befriedigungen zu bieten und, indem sie diese erschöpft, es zu überzeugen, dass sie es nicht wirklich befriedigen können und dass, was es im Grunde sucht, eine göttliche Befriedigung ist. Durch den Joga beschleunigen wir das langsame Verfahren der Natur und legen Gewicht darauf, dass das physische Bewusstsein selbst die Wahrheit erkennen und wollen lerne. Aber wie ihm die Wahrheit zeigen ? Nun, so wie man ein Licht in einen dunklen Raum bringt. Erhellt die Dunkelheit eures physischen Bewusstseins mit der Intuition und der Sehnsucht der verfeinerteren Teile und beharrt dabei, bis es das Ungenügen und die Nichtigkeit seines Hungers nach den niedrigen gewöhnlichen Dingen einsieht und sich spontan der Wahrheit zuwendet. Und wenn es dies wirklich tut, so ändert sich euer ganzes Leben — die Erfahrung ist entscheidend.

Wenn ich mich als Kind bei meiner Mutter über das Essen oder andere kleine Dinge dieser Art beklagte, pflegte sie mir zu sagen, ich solle lieber meine Arbeit tun oder fleißig lernen als mich mit Lappalien aufhalten. Sie fragte mich, ob ich mich in dem Glauben wiege, für mein Vergnügen geboren zu sein. „Du bist geboren, um das höchste Ideal zu verwirklichen", sagte sie und schickte mich weg. Sie hatte völlig recht, obwohl natürlich ihr Begriff vom

 

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höchsten Ideal nach unserem Maßstab ziemlich armselig war. Wir alle sind für das höchste Ideal geboren. Folglich, wann immer in unserm Aschram einer eurer kleinen Wünsche nach mehr Komfort oder materiellem Behagen versagt wird, so geschieht dies zu eurem Wohl und um euch das verwirklichen zu lassen, um dessentwillen ihr hier seid. Diese Verweigerung ist tatsächlich eine Gunst, denn ihr werdet in dieser Weise für würdig erachtet, vor dem höchsten Ideal zu stehen und von ihm geformt zu werden.

 

 

VI

 

Die Sehnsucht der Pflanzen

 

Habt ihr je einen Wald mit seinen unzähligen Bäumen und Pflanzen betrachtet, die kämpfen, um das Licht zu erhaschen, die auf tausend Weisen streben und sich winden, nur um in der Sonne zu sein ? Genau das ist das Gefühl der Sehnsucht im Physischen — der Drang, die Bewegung, das Aufstreben zum Licht. Die Pflanzen haben davon in ihrem physischen Wesen mehr als die Menschen. Ihr gesamtes Dasein ist eine Anbetung des Lichts. Natürlich ist Licht das materielle Sinnbild des Göttlichen, und die Sonne stellt hier das höchste Bewusstsein dar. Die Pflanzen haben das sehr deutlich gefühlt auf ihre blinde einfache Weise! Und ihre Sehnsucht ist stark, ihr müsst sie nur zu erkennen wissen. Auf der stofflichen Ebene sind sie meinem Einfluss am offensten. Ich kann einen Bewusstseinszustand leichter einer Blume übermitteln als einem Menschen: sie sind sehr empfänglich, obwohl sie ihre Erfahrung nicht formulieren können, da sie keinen Geist besitzen. Doch haben sie instinktiv das reine seelische Bewusstsein. Wenn ihr mir daher eine Blume reicht, ist ihr Zustand fast immer ein Hinweis auf den eurigen. Es gibt Leute, denen es nie gelingt, mir eine Blume in ihrer ganzen Frische zu bringen — auch wenn sie gerade gepflückt worden ist, erlahmt sie in ihren Händen. Andere hingegen bringen immer frische Blumen und beleben sogar solche, die schon zu welken beginnen. Ist eure Sehnsucht und euer Streben stark, so wird eure Blumengabe frisch sein. Und wenn ihr empfänglich seid, könnt ihr

 

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auch ganz leicht die Botschaft empfangen, die ich beim Geben in die Blumen lege.

Wenn ich euch Blumen reiche, gebe ich euch Bewusstseinszustände.

Die Blumen sind Botschaften, und ihre Wirksamkeit hängt allein davon ab, wie empfänglich ihr seid.

 

 

VII

 

Vereinigung mit dem göttlichen Bewusstsein und Willen

 

Es ist eine und dieselbe Kraft, die, in Unwissenheit versunken, die Form lebentlicher Begierden annimmt und die, in ihrer reinen Form, den dynamischen Schwung zur Umwandlung ausmacht. Man muss sich daher ebenso sehr hüten, seinen Begierden unter dem Vorwand zu frönen, sie seien Bedürfnisse, die es zu befriedigen gelte, wie die vitale Kraft als etwas ganz und gar Schlechtes zu verwerfen.

Was ihr tun solltet, ist dies:  öffnet die Pforten eures Wesens ganz weit dem Göttlichen. In dem Augenblick, wo ihr etwas verbergt, verfallt ihr stracks der Falschheit. Die geringste Verstellung zieht euch sogleich nach unten, ins Unbewusste. Wollt ihr voll bewusst sein, so haltet euch immer im Angesicht der Wahrheit;  öffnet euch völlig und tut euer Möglichstes, sie tief in euch eindringen zu lassen, in alle Winkel eures Wesens. Seid ganz bescheiden, d.h. seid euch bewusst, wie weit ihr von dem entfernt seid, was ihr sein sollt, und erlaubt eurem groben physischen Geist nicht zu wähnen, er wisse, wenn er nicht weiß, und er könne urteilen, wenn er dazu nicht in der Lage ist. Bescheiden sein bedeutet, sich dem Göttlichen mit ganzem Herzen zu überantworten und seine Hilfe zu erbitten;  indem man sich hingibt, erlangt man eine solche Freiheit und wird man der Verantwortung so enthoben, dass der Geist völlig still wird. Das ist der einzige Weg zur Vereinigung mit dem göttlichen Bewusstsein und Willen.

Natürlich hängt es vom Weg ab, auf dem ihr euch dem Göttlichen nähert, ob die Vereinigung mit dem Bewusstsein oder

 

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die mit dem Willen zunächst kommt. Wenn ihr tief in euer Inneres steigt, dürfte das erstere der Fall sein;  nehmt ihr euren Standpunkt in der Allbewegung ein, dann wohl das letztere. Doch ist es schwierig, scharf umrissene Verallgemeinerungen zu machen, weil die Sadhana etwas Geschmeidiges und Fließendes ist und auch weil das göttliche Bewusstsein und der göttliche Wille miteinander sehr eng verbunden sind, zwei Aspekte von einem und demselben Sein. Beachtet jedoch, dass eine bloße Ähnlichkeit in eurem Denken oder eurem Tun noch nicht beweist, dass diese Vereinigung vollzogen ist. Alle derartigen Beweise sind oberflächlich, denn die wirkliche Vereinigung bedeutet eine ganzheitliche Wandlung, eine vollständige Umkehrung eures Normalbewusstseins. Das könnt ihr in eurem Geist nicht erlangen, auch nicht in einem gewöhnlichen Bewusstseinszustand. Aus dem müsst ihr vollständig herauskommen — dann erst, und nicht vorher, könnt ihr mit dem göttlichen Bewusstsein eins werden. Ist die Vereinigung einmal wirklich erfahren, wird euch der Gedanke, dieses Einssein durch eine Ähnlichkeit zwischen euren und meinen Gedanken, euren und meinen Handlungen beweisen zu wollen, lächerlich erscheinen. Leute, die jahrelang im selben Haus wohnen oder täglich in engem Kontakt miteinander stehen, denken und handeln übereinstimmend. Aber ihr könnt nicht behaupten, wie das Göttliche zu sein durch einen bloßen mentalen Kontakt dieser Art. Ihr müsst in eine völlige Umkehrung eures Bewusstseins einwilligen. Es ist das echte Merkmal des Einsseins, wenn euer Bewusstsein dieselbe Beschaffenheit, dieselbe Wirkensweise hat wie das Göttliche und dies aus derselben übergeistigen Wissensquelle stammt. Dass ihr im Äußeren gelegentlich so zu handeln scheint wie das Göttliche, mag Zufall sein, und die Einheit durch solche Vergleiche darzutun heißt etwas sehr Großes durch etwas recht Kleines beweisen zu wollen. Der wirkliche Beweis ist die unmittelbare Erfahrung des göttlichen Bewusstseins in allem, was ihr tut. Das ist ein unverkennbarer Beweis, denn euer gesamtes Wesen ist dadurch verändert.

Selbstverständlich könnt ihr nicht auf einmal fest im göttlichen Bewusstsein stehen;  doch schon bevor es sich in euch niederlässt, könnt ihr es von Zeit zu Zeit erfahren. Das göttliche Bewusstsein kommt und geht, und solange die Einigung dauert, seid ihr

 

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wirklich eine andere Person ! Das ganze Weltall trägt ein neues Gesicht, und ihr selbst, wie auch eure gesamte Wahrnehmung, eure Schau von den Dingen, ist verwandelt. Solange ihr diese Erfahrung nicht habt, neigt ihr dazu, Beweise zu suchen;  aber Beweise und Ergebnisse sind nebensächlich — grundsätzlich bedeutet die Einung, dass ihr in eurem Bewusstsein mehr wisst als ein Mensch. Wenn ihr dank einem lauteren, ruhigen und empfänglichen Geist in Übereinstimmung mit meinen Absichten zu denken und zu handeln vermögt, so ist das sehr schön, aber ihr müsst nicht einen Schritt auf dem Weg für das Endziel halten. Denn der Hauptunterschied zwischen einer tatsächlichen Einung und einer geistigen Empfänglichkeit ist der, dass ich hier formulieren und in die Stille und Reinheit eures Geistes legen muss, was ich euch tun lassen will, während ich bei einer wirklichen Einung nichts zu formulieren brauche. Ich lege in euch nur das nötige Wahrheitsbewusstsein, und das übrige arbeitet sich von selbst aus, denn ich bin es dann, die in euch ist.

Das ist wohl alles für euch ein bisschen schwer zu begreifen, weil die Erfahrung fast unbeschreiblich ist. Es ist jedoch weniger schwer, die Vereinigung mit dem göttlichen Willen zu verstehen, denn ihr könnt euch einen Willen vorstellen, der ohne zu ringen wirksam ist und der sich siegreich überall offenbart. Und wenn euer gesamtes Wollen darauf gerichtet ist, sich diesem Willen zu einen, gelangt ihr zu etwas, das der Vereinigung nahe kommt. Das heißt, ihr beginnt euren ichhaften gesonderten Willen zu verlieren;  euer Wesen dürstet von sich aus danach, das Geheiß des Göttlichen zu tun, und auch ohne zu wissen, dass es der höchste Wille ist, will es genau das, was das Göttliche wünscht. Aber das bedeutet ein fragloses Annehmen der höheren Führung. Die Energie, in euch zu lebentlichen Begierden entstellt, ursprünglich jedoch ein Drang zur Verwirklichung, muss sich dem göttlichen Willen so einen, dass all euer Wollen in ihm aufgeht wie ein Wassertropfen im Meer. Schluss mit den Schwächen und dem Versagen, hingegen immer mehr von dieser höchsten Beschaffenheit des göttlichen Willens — der Allmacht !

 

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VIII

 

Ausdauer — Lob und Tadel — Die Umkehr des Lebentlichen

 

Lasst Ausdauer eure Losung sein. Lehrt die Lebenskraft in euch — euer lebentliches Wesen — sich nicht zu beklagen, sondern sich mit allen Bedingungen abzufinden, die für eine große Vollbringung nötig sind. Der Körper ist ein sehr geduldiger Diener;  friedlich wie ein Lasttier erträgt er den Druck der Umstände. Das Lebentliche ist es, was immer murrt und sich aufregt. Die Knechtschaft, die es dem Körper auferlegt, die Qualen, die es ihm zufügt, sind kaum zu ermessen. Wie es mit dem armen nach Lust und Laune verfährt, wobei es ohne den geringsten Grund verlangt, dass alles nach seiner Flöte zu tanzen habe ! Aber das Wesentliche der Ausdauer ist es gerade, dem Lebentlichen beizubringen, seine grillenhaften Neigungen und Abneigungen aufzugeben und auch in den misslichsten Lagen den Gleichmut zu bewahren. Wenn ihr von jemandem übel behandelt werdet, oder wenn euch etwas fehlt, das euer Unbehagen beheben würde, müsst ihr guten Mutes bleiben und euch nicht verdrießen lassen. Regt euch nicht im geringsten auf, und wann immer das Lebentliche sich anschickt, seine geringfügigen Beschwerden mit pomphafter Übertreibung kundzutun, haltet eine Weile inne und bedenkt, wie glücklich ihr doch seid, verglichen mit so vielen auf dieser Welt. Überlegt einen Augenblick, was die Soldaten im Weltkrieg durchmachen mussten. Hättet ihr solches Ungemach zu erdulden, so würdet ihr den völligen Unsinn euer Unzufriedenheit einsehen. Dennoch fordere ich euch nicht auf, Schwierigkeiten zu suchen — ich möchte lediglich, dass ihr die kleinen belanglosen Misshelligkeiten eures Lebens ertragen lernt.

Nichts Großes wird jemals ohne Ausdauer vollbracht. Studiert ihr das Leben großer Menschen, so seht ihr, wie sie sich mit steinerner Härte gegen die Schwächen des Lebentlichen erhoben haben. Und auch heutzutage ist die Meisterung des Physischen durch Ausdauer im Lebentlichen der eigentliche Sinn unsrer Zivilisation. Sportsgeist, Abenteuerlust und Unerschrockenheit angesichts übergroßer Widerstände bekunden sich in allen Bereichen des Lebens, und sie gehören zu diesem Ideal der Ausdauer.

 

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Auch in den Wissenschaften hängt der Fortschritt von zahllosen schweren Prüfungen und unzähligen Versuchen ab, die dem Vollbringen vorausgehen. Gewiss brauchen wir nicht weniger Ausdauer für das bedeutende Werk, das wir in unserm Aschram unternommen haben. Was nottut, ist eine gute Tracht Prügel für das Lebentliche, sobald es aufbegehrt. Handelt es sich um das Physische, so hat man Grund, nachsichtig zu sein und achtzugeben;  aber beim Lebentlichen hilft einzig eins aufs Dach, und zwar in demselben Augenblick, wo es sich beklagt. Es gibt keine andere Methode, aus diesem armseligen Bewusstsein herauszukommen, das den materiellen Annehmlichkeiten des Daseins so viel Wert beilegt, statt nach dem Licht und der Wahrheit zu fragen.

Eins der üblichsten Bedürfnisse des Lebentlichen ist das nach Lob. Es mag gar nicht gern, wenn es kritisiert oder so behandelt wird, als habe es nur geringe Bedeutung. Doch sollte es immer für Verweise bereit sein und sie mit völliger Ruhe ertragen. Andererseits darf es sich nicht um Komplimente kümmern, sondern muss daran denken, dass jede Regung der Selbstzufriedenheit eine Darbringung auf dem Altar der Herren der Falschheit ist. Die Wesenheiten der subtilen Welt der Lebenskraft, mit denen unser Lebentliches in Verbindung steht, leben und nähren sich von der Verehrung ihrer Anhänger, und darum hören sie nicht auf, neue Kulte und Religionen zu inspirieren, so dass ihre Feste und Zeremonien der Anbetung und Belobigung nie zu Ende gehen. So verhält es sich auch mit eurem eigenen lebentlichen Wesen; die lebentlichen Kräfte hinter ihm gedeihen — d.h. mästen ihr Unwissen —, indem sie die Schmeicheleien anderer verschmausen. Vergesst aber nicht, dass Komplimente von Leuten der gleichen Stufe der Unwissenheit wie man selber nicht den geringsten Wert haben;  sie sind genauso belanglos wie die Rügen, die sie euch erteilen. Ganz gleich aus welch anmaßender Quelle sie stammen, sie sind leer und nichtig. Leider aber lechzt das Lebentliche sogar nach dem faulsten Futter und ist so gierig, dass es sich auch von der verkörperten Unzuständigkeit loben lässt. Das bringt mir die jährliche Eröffnung der Pariser Kunstausstellung in Erinnerung, wo der Präsident der Republik die Bilder besichtigt und dabei tiefsinnig bemerkt, dass dies eine Landschaft und jenes ein Porträt sei;  dazu gibt er

 

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mit dem Gehabe eines hervorragenden Kenners platte Erklärungen ab. Die Maler wissen ganz genau, wie dumm das Gerede ist, und dennoch verpassen sie keine Gelegenheit, mit der Anerkennung großzutun, die der Präsident ihrem Genie gezollt hat. Denn so ist das Lebentliche der Menschen, maßlos ehrsüchtig.

Was jedoch wirklichen Wert hat, das ist das Urteil der Wahrheit. Wenn jemand mit der göttlichen Wahrheit in Verbindung steht und sie auszudrücken vermag, sind die Meinungen, die er abgibt, keine gewöhnlichen Komplimente oder Kritiken, sondern das, was das Göttliche von euch denkt, der Wert, den es euren Qualitäten beimisst, der untrügliche Stempel, den es auf eure Bemühung prägt. Ihr solltet bestrebt sein, einzig auf das Wort der Wahrheit Wert zu legen — und um euch auf diese Höhe zu erheben, müsst ihr in euch Agni, die Flamme der Umwandlung, brennen lassen. Es ist übrigens bemerkenswert, dass ihr, sobald Agni aufloht, die Lobhudeleien zu verabscheuen anfangt, die euch früher so sehr zu gefallen pflegten, und ihr begreift klar, dass eure Wertschätzung des Beifalls eine niedrige Regung in eurer unverwandelten Natur war. Agni lässt euch erkennen, welch weite Aussicht auf mögliche Verbesserung vor euch liegt und erfüllt euch mit dem Gefühl eures gegenwärtigen Ungenügens. Die euch von anderen erteilten Belobigungen sind euch so zuwider, dass ihr fast eine Abneigung gegen jene empfindet, die ihr früher für Freunde gehalten hättet. Alle Kritiken hingegen nehmt ihr im Guten auf, denn sie dienen euch als Öl ins Feuer eures demütigen Strebens nach der Wahrheit. Ihr fühlt euch durch Feindseligkeit anderer nicht mehr niedergeschlagen oder herabgemindert. Mindestens seid ihr fähig, sie mit der größten Leichtigkeit zu übersehen, und bestenfalls begrüßt ihr sie als neuen Beweis für euren gegenwärtigen ungewandelten Zustand, was euch zum Selbstübersteigen anspornt, indem ihr euch dem Göttlichen anheimgebt.

Ein anderes auffallendes Zeichen der Umkehr eures Lebentlichen ist es, dass ihr dank dem Einfluss von Agni den Schwierigkeiten und Hindernissen mit einem Lächeln begegnen könnt. Ihr geht nicht mehr in Sack und Asche umher und jammert über eure Fehler, völlig niedergeschlagen, weil ihr noch nicht ganz auf der Höhe seid. Mit einem Lächeln verscheucht ihr die Bedrückung.

 

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Hundert Fehler machen euch nichts aus:  lächelnd erkennt ihr, dass ihr euch geirrt habt, und lächelnd beschließt ihr, die Dummheit in Zukunft nicht zu wiederholen. Alle Niedergeschlagenheit und aller Trübsinn wird von feindlichen Kräften erzeugt, die nie so zufrieden sind wie dann, wenn sie euch in eine düstere Stimmung hineinziehen können. Demut ist etwas ganz anderes als Niedergeschlagenheit. Sie ist eine göttliche Regung, letztere hingegen eine sehr grobe Äußerung dunkler Kräfte. Begegnet darum euren Sorgen mit Heiterkeit, bietet den Hindernissen, die unterwegs zur Umwandlung auftreten, mit unbeirrt guter Laune die Stirn. Die beste Art den Feind außer Gefecht zu setzen ist, ihm ins Gesicht zu lachen ! Ihr könnt tagelang in einen Kampf verwickelt sein, ohne dass die Kraft des Feindes nachlässt, aber verspottet ihn nur ein einziges Mal, und siehe da, er nimmt Reißaus ! Ein zuversichtliches Lachen voll Vertrauen in das Göttliche ist die verheerendste Kraft, die es gibt, es zerschlägt die Front des Feindes, wirft seine Reihen um und trägt euch siegreich voran.

Das bekehrte Lebentliche kennt auch die Freude am Marsch zur Verwirklichung. Alle Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, nimmt es gern in Kauf, es fühlt sich niemals glücklicher, als wenn ihm die Wahrheit gezeigt und das Spiel der Falschheit in seiner niederen Natur entlarvt wird. Es macht den Joga nicht so, als trüge es eine Last auf dem Rücken, sondern als wäre er eine sehr angenehme Beschäftigung. Es ist gewillt, das Schlimmste mit einem Lächeln zu ertragen, wenn es zur Umwandlung gehört. Ohne zu murren und sich zu beklagen erträgt es alles gerne um des Göttlichen willen. Es hat die unerschütterliche Überzeugung, dass der Sieg gewonnen wird. Nie wird es einen Augenblick in seinem Glauben wankend, dass die gewaltige Arbeit, die Sri Aurobindo unternommen hat, von Erfolg gekrönt sein wird. Denn das ist wirklich eine Tatsache;  es gibt nicht den Schatten eines Zweifels, was den Ausgang des Werks betrifft, das wir unter den Händen haben. Dies ist nicht einfach ein Versuch, sondern die unausweichliche Seinsoffenbarung des Übergeistes. Das bekehrte Lebentliche hat das Vorherwissen des Sieges, bewahrt einen unverdrossenen Fortschrittswillen, fühlt sich voll Energie, die es aus seiner Gewissheit des göttlichen Sieges schöpft, nimmt wahr, wie in ihm

 

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das Göttliche immer alles tut, was nötig ist, und ihm die unbeugsame Kraft eingibt, seinen Widersachern die Stirn zu bieten und sie schließlich zu überwinden. Warum sollte es verzweifeln oder sich beklagen ! Die Umwandlung wird stattfinden:  nichts wird sie aufhalten können, nichts wird den Erlass des Allmächtigen vereiteln. Weist also alle Bedenken und Schwächen von euch und beschließt, tapfer auszuharren bis zu dem großen Tag, wo der lange Kampf sich in einen immerwährenden Sieg verwandelt.

 

 

IX

 

Der Sieg über die Falschheit

 

Die Herren der Falschheit halten die arme Menschheit gegenwärtig fast vollständig in ihrer Gewalt. Nicht nur die niedere Lebensenergie, das niedere lebentliche Wesen, sondern auch der ganze Geist des Menschen anerkennt sie. Auf unzählige Weisen lassen sie sich verehren, denn sie sind ungemein subtil in ihrer Tücke und verfolgen ihre Ziele in mannigfaltigen verführerischen Verkleidungen. Daher klammern sich die Menschen an ihre Falschheit wie an einen Schatz und achten sie höher als die schönsten Dinge des Lebens. Sie vergraben sie sorglich im tiefsten Innern, da sie um deren Sicherheit bangen;  aber solange sie sie nicht herausholen und dem Göttlichen hingeben, finden sie niemals das wahre Glück.

Ja, die Lüge und Falschheit ans Licht zu bringen ist schon an und für sich eine entscheidende Umkehr, die den Weg zum endgültigen Sieg vorbereitet. Denn jedes Bloßlegen einer Falschheit ist ein Sieg;  jedes Eingeständnis eines Fehlers bedeutet die Vernichtung eines der Herren der Finsternis. Dies mag ein Bekenntnis vor einem selber sein, sofern es völlig ehrlich ist und nicht nur ein vages Bedauern, das man im nächsten Augenblick vergisst, ohne die Kraft zum festen Entschluss, denselben Fehler nicht mehr zu machen. Oder man mag ihn dem im Guru verkörperten Göttlichen eingestehen, und durch das direkte persönliche Bekenntnis bleibt euer Entschluss nicht mehr euer eigener, denn wenn ihr aufrichtig seid, wird das göttliche „Es geschehe !" für euch ausgesprochen.

 

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Um euch eine Vorstellung davon zu geben, schildere ich euch eine Erfahrung, die ich bei meiner ersten Begegnung mit Sri Aurobindo in Pondicherry hatte. Ich war in einem Zustand tiefer Sammlung und sah Dinge im Übergeist, Dinge, die sich auf Erden verwirklichen sollten, sich aber aus irgendeinem Grund nicht offenbarten. Ich erzählte Sri Aurobindo, was ich gesehen hatte und fragte ihn, ob diese Dinge sich offenbaren würden. Er antwortete einfach: „Ja". Und in dem Augenblick sah ich, dass der Übergeist die Erde berührt hatte und anfing, sich zu verwirklichen ! Dies war das erste Mal, dass ich Zeuge der Macht war, wirklichzumachen, was wahr ist. Und dieselbe Macht ist es, die in euch die Wahrheit verwirklichen wird, wenn ihr in aller Aufrichtigkeit sagt: „Diese Falschheit will ich loswerden", und die Antwort, die ihr dann erhaltet, ist "Ja".

 

 

X

 

Bekehrung des Lebentlichen

Wiedergeburt und persönliches Weiterleben

 

Es ist sehr wichtig, dass das Lebentliche einwilligt, sich zu ändern. Es muss lernen, seine Bekehrung anzunehmen. Das Lebentliche an sich ist gewiss nicht zu verachten — ja, alle Dynamik und aller Schwung kommen von ihm;  ohne es könnt ihr ruhig, weise und abgeklärt sein, aber ihr bleibt völlig unbeweglich ohne schöpferische Kraft. Ohne die ihm vom Lebentlichen eingeflößte Kraft wäre der Körper reglos wie ein Stein. Würde das Lebentliche entfernt, so könntet ihr nicht das Geringste verwirklichen. Aber es kann störrisch sein wie ein feuriges Ross und braucht daher einen festen Meister. Ihr müsst die Zügel kurz halten und die Peitsche griffbereit, um dies mächtige Tier in eurer Gewalt zu haben. Hat jedoch das Lebentliche einmal in die Umwandlung gewilligt, so sind weder straffe Zügel noch Peitsche nötig:  ihr reitet glatt dem Ziel entgegen, setzt leicht über jedes Hindernis im Weg. Sonst würde das Lebentliche über die Schranken stolpern oder vor ihnen zurückscheuen. Es hat keinen Sinn zu denken, alles würde gut sein, wenn es

 

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keine Hürden gäbe:  sie gehören zum Spiel, und wenn ihr sie nicht hier und jetzt in Angriff nehmt, in diesem Leben auf der Erde, dann habt ihr auf anderen Daseinsebenen und in anderen Leben hundertmal größere Hindernisse zu überwinden. Am besten entscheidet ihr euch ein für allemal, euer Lebentliches zum Wettkampf hier zu rüsten, solange ihr im Körper seid, und wenn möglich das Rennen zu gewinnen. Ihr werdet bestimmt siegen, sofern euer physischer Geist sich ändert und dem Lebentlichen bei der Wandlung hilft, statt den Räuber zu spielen, der das Opfer niederhält, während sein Spießgeselle Beute macht.

Die Verfassung eures Wesens nach dem Tod hängt weitgehend davon ab, ob das Lebentliche hier bekehrt worden ist oder nicht. Seid ihr selbst nur ein Mischmasch unzusammenhängender Impulse, dann geschieht es im Augenblick eures Todes, wenn sich das Bewusstsein in den Hintergrund zurückzieht, dass die verschiedenen Persönlichkeiten, die euch ausmachen, sich trennen und hierhin und dorthin stürzen, um eine passende Umgebung zu suchen. Ein Teil mag in eine andere Person gehen, die Ähnlichkeit mit ihm hat, ein anderer Teil sogar in ein Tier, während das, was zur göttlichen Gegenwart erwacht ist, dem zentralen seelischen Wesen verbunden bleiben kann. Seid ihr aber insgesamt bekehrt und in ein einziges Individuum eingegänzt, entschlossen, das Ziel der Evolution zu erreichen, dann bleibt ihr nach dem Tod bewusst und besteht weiter.

Zur Wiedergeburt muss ich sagen, dass es keine Regel für alle Fälle gibt. Manche werden fast unmittelbar wiedergeboren, am häufigsten Eltern, von denen ein Teil ihren Kindern einverleibt wird, wenn diese sehr an ihnen hängen. Andere hingegen warten Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende, bis sie sich wieder verkörpern. Sie warten, dass die notwendigen Bedingungen heranreifen, die ihnen ein geeignetes Milieu bieten. Wer ein jogisches Bewusstsein hat, kann tatsächlich den Körper für das nächste Leben vorbereiten. Er kann ihn vor der Geburt gestalten und bilden, so dass er dessen eigentlicher Schöpfer ist, während die Eltern nur die untergeordneten, rein physisch Mitwirkenden sind.

Ich muss hier kurz auf ein weit verbreitetes Missverständnis eingehen. Die Leute meinen, sie selbst würden wiederverkörpert, was

 

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offensichtlich ein Irrtum ist. Zwar vermischen sich gewisse Teile des Wesens mit anderen Menschen und wirken so durch neue Körper weiter, aber es verkörpert sich nicht ihr gesamtes Wesen, weil nämlich das, was sie für „sich selbst" halten, keine wirklich individualisierte Wesenheit ist, sondern eine Oberflächenpersönlichkeit, die durch einen Namen und eine äußere Form bestimmt wird. So ist es falsch zu behaupten, A sei als B wiedergeboren: A ist eine von B durchaus verschiedene Persönlichkeit, und man kann nicht sagen, er habe sich in B wiederverkörpert. Ihr hättet nur dann recht, wenn ihr sagen würdet, dieselbe Bewusstseinslinie habe sowohl A wie auch B als Werkzeuge für ihre Offenbarung verwendet. Denn was wirklich dasselbe bleibt, ist das seelische Wesen, das keineswegs die Oberflächenpersönlichkeit ist, sondern etwas Tiefinnerliches, etwas, das weder die äußere Form ist noch der Name.

Ihr wollt wissen, ob alle Leute nach der Auflösung des Körpers ihre Identität bewahren ? Nun, es kommt darauf an. Die gewöhnliche Masse der Menschen ist so sehr mit dem Körper identifiziert, dass von ihnen nichts übrig bleibt. Das heißt nicht, dass gar nichts überlebt, denn die lebentliche und geistige Substanz bleibt immer, aber sie ist nicht mit der physischen Persönlichkeit identisch. Was fortdauert, hat nicht die klare Prägung wie die Außenpersönlichkeit, weil diese sich begnügte, ein Mischmasch von Impulsen und Begierden zu bleiben, eine vorläufige, durch den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der Körperfunktionen bestimmte Einheit, und sobald diese Funktionen enden, hört natürlich auch ihre Pseudoeinheit auf. Nur wenn den verschiedenen Teilen des Wesens eine geistige Disziplin auferlegt worden ist und sie einem gemeinsamen geistigen Ideal gedient haben, kann es eine echte Individualität von der Art geben, dass sie die Erinnerung an ihr irdisches Leben behält und also bewusst überlebt. Der Künstler, der Philosoph und andere entwickelte Personen, die ihr lebentliches Wesen organisiert, individualisiert und bis zu einem gewissen Grade bekehrt haben, von ihnen lässt sich sagen, dass sie überleben, denn sie haben in ihr äußeres Bewusstsein einen Schimmer der seelischen Wesenheit gebracht, die ihrer Natur nach unsterblich ist und deren Ziel es ist, das gesamte Wesen nach und nach um den zentralen göttlichen Willen herum aufzubauen.

 

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XI

 

Auferstehung

 

Auferstehung heißt hier das Ablegen des alten Bewusstseins. Doch ist dies nicht nur eine Neugeburt, eine jähe Wandlung, die völlig mit der Vergangenheit bricht. Bei der Wiedergeburt besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Augenblick, wo man seinem alten Ich stirbt, der äußeren und niederen Natur, und dem Augenblick, wo man auf anderen Grundlagen neu beginnt. In dieser Erfahrung ist der Vorgang, der uns vom alten Wesen löst, eng verbunden mit dem Aufstieg des neuen Bewusstseins und der neuen Kraft, so dass das Beste vom Abgelegten sich in einer Neuschöpfung mit dem gerade Entstandenen vereinigen kann.

Der eigentliche Sinn der Auferstehung ist das Erwachen des göttlichen Bewusstseins aus dem Unbewussten, wohinein es gesunken war und worin es sich verloren hatte. Das göttliche Bewusstsein wird sich wieder seiner selbst bewusst, trotz seines Abstiegs in die Welt des Todes, der Nacht und der Finsternis. Jene Welt der Finsternis ist noch dunkler als unsre physische Nacht: würdet ihr dort hineingetaucht sein und dann wieder herauskommen, so fändet ihr die undurchdringlichste Nacht noch hell, verglichen mit jener Welt, ebenso wie ihr, vom wahren Licht des göttlichen Bewusstseins zurückkommend, vom übergeistigen Licht ohne Dunkelheit, die physische Sonne schwarz finden würdet. Und dennoch ist sogar in den Tiefen dieser äußersten Finsternis das höchste Licht verborgen.

Möge dies Licht und dies Bewusstsein in euch erwachen, möge diese große Auferstehung stattfinden !

 

 

XII

 

Wiedergeburt und Erinnerung an frühere Leben

 

Um das Problem der sogenannten Wiedergeburt richtig zu verstehen, müsst ihr erkennen, dass dabei zwei Faktoren zu untersuchen sind.

 

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Erstens gibt es eine Linie göttlichen Bewusstseins, die sich von oben her zu offenbaren sucht und eine Reihe von Ausprägungen stützt, die ihr in der Welt, ihrem Offenbarungsfeld, eignen. Zweitens gibt es das seelische Bewusstsein, Keim der göttlichen Entwicklung durch die Zeit, das von unten emporsteigt, bis es der Kraft von oben begegnet und den Stempel der übergeistigen Wahrheit empfängt.

Dies seelische Bewusstsein ist das innere Wesen des Menschen, der Grundstoff, aus dem die eigentliche Seele, der Dschiwa, gestaltet wird, wenn auf seine Sehnsucht und sein Streben der Übergeist herabkommt, um ihm eine zusammenhängende Persönlichkeit zu geben. Das äußere Wesen des Menschen ist eine vergängliche Ausprägung aus der Substanz der Allnatur — geistig, lebentlich und physisch — und das Ergebnis eines verwickelten Spiels von allen möglichen Kräften. Das Seelische nimmt sozusagen die Essenz der Erfahrungen auf, die von den verschiedenen Ausprägungen gemacht werden, hinter denen es steht; doch da es sich nicht in ständiger Fühlung mit diesen Ausprägungen befindet, bewahrt es die Leben, die es stützt, nicht in ihrer Gesamtheit. Darum genügt es nicht, einfach mit dem Seelischen in Fühlung zu treten, um sich aller früheren Leben im einzelnen zu erinnern.

Was im allgemeinen für Erinnerung an frühere Leben ausgegeben wird, ist meistens ein ausgemachter Schwindel oder eine Erfindung, die aus ein paar gelegentlichen inneren Hinweisen ausgesponnnen wird. Viele Leute behaupten, sich auch ihrer Tierleben zu erinnern;  sie sagen, sie seien so und so ein Affe in der und der Gegend der Erde gewesen. Wenn aber eine Sache sicher ist, dann die, dass ein Affe nicht den geringsten Kontakt zum seelischen Bewusstsein hat und ihm also kein bisschen von seiner Erfahrung übermitteln kann. Die von seiner Affennatur empfangenen Eindrücke verschwinden mit dem Zerfall seines Tierkörpers, und wenn jemand diese Eindrücke zu kennen vorgibt, beweist er das gröbste Unwissen über die Tatsachen und das von uns untersuchte Problem. Und sogar was die Menschenleben betrifft, kann man genaue Erinnerungen erst dann behalten, wenn das Seelische nach vorne kommt — aber gewiss nicht alle Einzelheiten des Lebens, es sei denn, das Seelische ist immer vorn und in

 

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ständiger Einung mit dem äußeren Wesen. Denn im allgemeinen lösen sich das physische Geistige und Lebentliche beim Tod des Organismus auf;  sie zerfallen und kehren zur Allnatur zurück, und von ihren Erfahrungen bleibt nichts. Solange sie nicht mit dem Seelischen vereint sind und ein einziges Bewusstsein bilden statt zwei Hälften, solange nicht die gesamte Natur um den zentralen göttlichen Willen geeint ist und bis dies zentralisierte Wesen mit der göttlichen Bewusstseinslinie oben verbunden ist, kann man das zu diesem Bewusstsein gehörige Wissen nicht empfangen und auch die ganze Reihe der Formen und Leben nicht wahrnehmen, die von diesem Bewusstsein gestützt wurden und als aufeinanderfolgende Instrumente eines fortschreitenden Selbstausdrucks dienten. Solange das nicht getan ist, ist es müßig, von seinen früheren Geburten und deren mannigfachen Ereignissen zu reden. Dies liebe „man selbst" ist bloß die gegenwärtige vergängliche äußere Natur, die absolut nichts zu tun hat mit den verschiedenen anderen Ausprägungen, hinter denen, so wie auch hinter der jetzigen, das wahre Wesen steht. Nur das übergeistige Bewusstsein hält all diese Geburten wie an einem Faden, und nur es kann das wirkliche Wissen geben.

 

 

XIII

 

Seelische Gegenwart und seelisches Wesen

Das verlorene Paradies

 

Wenn man die aufsteigende Evolution betrachtet, spricht man besser von seelischer Gegenwart als von seelischem Wesen. Denn die seelische Gegenwart ist es, die allmählich zum seelischen Wesen wird. In jeder sich entfaltenden Form gibt es diese Gegenwart, aber sie ist nicht geeinzelt. Sie vermag zu wachsen und folgt dem Gang der Evolution. Sie ist nicht das Ergebnis einer Herabkunft, einer Involution von oben. Diese Gegenwart formt sich zunehmend um den Funken des göttlichen Bewusstseins, der dazu bestimmt ist, das Zentrum des wachsenden Wesens zu sein, das, wenn es sich schließlich individualisiert hat, zum seelischen Wesen wird. Dieser

 

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Funke ist es, was fortdauert und alle möglichen Elemente um sich sammelt, um die Individualität des wahren seelischen Wesens zu bilden, und dieses ist nicht eher geformt, als bis die seelische Persönlichkeit um den göttlichen Funken herum vollständig entwickelt und gestaltet ist. Das seelische Wesen erreicht seinen Höhepunkt und seine ganze Fülle erst dann, wenn es sich mit einem Wesen oder einer Persönlichkeit von oben vereint.

Unterhalb der menschlichen Stufe gibt es im allgemeinen kaum eine individuelle Ausprägung, sondern nur diese Gegenwart, mehr oder weniger deutlich. Doch seit mit der Entwicklung des Körpers um den Funken des göttlichen Bewusstseins herum die Menschheit auf der Erde ihren Anfang genommen hat, haben sich gewisse menschliche Organismen im Verlauf dieses fortschreitenden Wachstums genügend vervollkommnet, um dank ihrer Offenheit und Empfänglichkeit eine Verbindung mit gewissen Wesen von oben eingehen zu können. So bildete sich eine Art göttlicher Menschheit, man könnte sagen eine Eliterasse. Wäre diese für sich geblieben, so hätte sie auch weiterhin etwas Einzigartiges und Übermenschliches dargestellt. Zwar haben manche Rassen den Anspruch erhoben, eine auserwählte zu sein:  die Arier, die Semiten und die Japaner haben sich der Reihe nach dafür gehalten. Tatsächlich aber hat eine allgemeine Nivellierung stattgefunden, eine beträchtliche Vermischung. Denn die höhere Rasse stand vor der Notwendigkeit sich fortzusetzen, und dies brachte sie dazu, sich mit der übrigen Menschheit, der tierischen Menschheit also, zu vermischen. So wurde ihr Wert vermindert, und es kam zu dem großen Fall, von dem die Schriften der ganzen Welt sprechen, zur Austreibung aus dem Paradies, zum Ende des Goldenen Zeitalters. Das war offensichtlich ein Verlust vom Gesichtpunkt des Bewusstseins aus, aber nicht von dem der stofflichen Kraft, denn die gewöhnliche Menschheit hat dabei ungeheuer gewonnen. Gewiss hat es welche gegeben, die es entschieden ablehnten, sich zu vermischen und sich dagegen wehrten, ihre Überlegenheit zu verlieren, und dies ist der eigentliche Ursprung des Rassenstolzes, rassischer Abgeschlossenheit und einer besonderen Kastenunterscheidung wie die einst von den Brahmanen in Indien gepflegte. Aber heute kann man keinen Teil der Menschheit als rein tierisch

 

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bezeichnen. Alle Rassen sind durch das von oben Herabgebrachte berührt worden. Natürlich lässt sich nicht sagen, jeder, Mensch habe ein seelisches Wesen, ebensowenig wie man jedem Tier eines absprechen kann. In vielen Tieren, die in der Nähe von Menschen gelebt haben, findet sich ein Anfang von seelischem Wesen, wogegen man so oft Leute trifft, die bloß tierisch sind. Im ganzen aber beginnt das Seelische im eigentlichen Sinn des Wortes auf der menschlichen Stufe, und deswegen erklärt die katholische Religion, nur der Mensch habe eine Seele. Nur im Menschen besteht für das seelische Wesen die Möglichkeit, so völlig erwachsen zu werden und so hoch hinauf zu reichen, dass es schließlich einem von oben herabkommenden Wesen, einer Gottheit, begegnen und sich mit dieser vereinen kann.

 

 

XIV

 

Glaube

 

Die Wahrnehmung des äußeren Bewusstseins mag die des Seelischen leugnen. Aber das Seelische hat das wahre Wissen, ein instinktives, intuitives Wissen. Es sagt: „Ich weiß; ich kann zwar keine Gründe angeben, aber ich weiß." Denn sein Wissen ist nicht mental, auf Erfahrung gegründet oder erwiesen. Es glaubt nicht erst, nachdem es Beweise erhalten hat, denn Glaube ist die Regung der Seele, und ihr Wissen ist spontan und direkt. Und behauptet auch die ganze Welt das Gegenteil und führt dazu tausend Beweise ins Feld, so hindert sie das nicht, aus innerer Erkenntnis zu wissen, aus unmittelbarer Wahrnehmung, die allem standhalten kann, einer Wahrnehmung durch Identität. Das Wissen des Seelischen ist etwas Konkretes und Fassbares, eine feste Masse. Ihr könnt dies Wissen auch in euren Geist, in euer Lebentliches und in euer Physisches bringen, und dann habt ihr einen ganzheitlichen Glauben, einen Glauben, der wahrhaft Berge versetzen kann. Aber nichts im Wesen darf kommen und sagen: „Es ist nicht so", oder Beweise verlangen. Die geringste Schwäche im Glauben verdirbt alles. Wie kann sich der Höchste offenbaren, wenn der Glaube

 

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nicht ganzheitlich und unwandelbar ist ? Der Glaube an sich ist immer unerschütterlich, das ist seine eigentliche Natur, sonst ist es kein Glaube. Es kann aber vorkommen, dass der Geist, das Lebentliche oder das Physische der seelischen Regung nicht Folge leisten. Ein Mensch kann zu einem Jogi kommen und plötzlich den Glauben haben, dass dieser ihn an sein Ziel führen wird. Er weiß nicht, ob diese Person das Wissen hat oder nicht, er fühlt aber einen seelischen Stoß und weiß, dass er seinem Meister begegnet ist. Er glaubt nicht erst nach ausgiebigen geistigen Erwägungen oder nachdem er Wunder gesehen hat. Und das ist der einzige Glaube von Wert. Ihr rennt immer an eurer Bestimmung vorbei, wenn ihr zu erörtern anfangt. So gibt es Leute, die sich hinsetzen und untersuchen, ob der seelische Impuls vernünftig ist oder nicht.

Nicht der sogenannte blinde Glaube führt die Menschen irre. Oft sagen sie: „Ach, ich habe an diesen oder jenen geglaubt, und er hat mich verraten." Tatsächlich liegt der Fehler nicht bei dieser Person, sondern im Mangel dessen, der an sie glaubte, da nämlich in ihm selber eine Schwäche war. Wäre sein Glaube unversehrt gewesen, so hätte er den anderen verändert. Er fand sich verraten, weil er nicht in demselben Glaubensbewusstsein geblieben war und nicht zu bewirken gewusst hatte, dass jener so wurde, wie er ihn wollte. Hätte er einen ganzheitlichen Glauben gehabt, er hätte ihn dazu gebracht, sich zu ändern. Wunder geschehen immer durch Glauben. Jemand tritt durch einen anderen mit der göttlichen Gegenwart in Kontakt:  kann er diesen rein und dauernd bewahren, so verpflichtet er das göttliche Bewusstsein, sich bis ins Stoffliche hinein zu offenbaren. Alles hängt von eurer eigenen Haltung und Aufrichtigkeit ab, und je bereiter ihr seelisch seid, desto sicherer werdet ihr zur rechten Quelle, zum rechten Meister geführt. Das Seelische und sein Glaube sind immer aufrichtig, doch wenn in eurem äußeren Wesen Unaufrichtigkeit ist und ihr nicht das spirtliche Leben, sondern persönliche Kräfte sucht, so kann dies euch irreführen. Das und nicht euer Glaube täuscht euch. Ein an sich reiner Glaube kann mit niedrigen Regungen vermischt werden, und das ist es, was euch irreführt.

 

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